Ein Dorf für einen Mantel!
          Geertje Gerholt führte durch ihr Reich 
          textiler Kostbarkeiten
        
        Kotofeij 
          K. Bajun
          1196 kam endlich der ersehnte Brief aus Rom! Der Heilige Vater gestattete 
          dem Probst von Brandenburg die Pontifikalien zu tragen, also die Insignien 
          geistlicher Macht. Der Probst hatte argumentiert, er könne die 
          heidnischen Wenden leichter zum Christentum bekehren, wenn er denn das 
          Evangelium im prachtvollen Outfit der römisch-katholischen Kirche 
          predigen dürfe. Der Papst sah das ein und fortan füllten sich 
          die Kleiderkammern des Klerus zu Brandenburg an der Havel mit Herrenkonfektion 
          besonderen Zuschnitts. Geertje Gerholt, die Textilrestauratorin des 
          Doms, führte ihre Schätze im Nordflügel der Domklausur 
          während einer Sonderführung vor, die einmalige Einblicke sowohl 
          in die Gewandsammlung selbst als auch in die Arbeit der Textilspezialistin 
          ermöglichte. Was sie zeigte, verschlug manchem Besucher den Atem. 
          Der anwesende Direktor des Dommuseums, Dr. Rüdiger von Schnurbein, 
          lächelte dazu milde: "Anzunehmen, nur im Südwesten wäre 
          die Pracht beheimatet gewesen, während man in den Missionsbistümern 
          östlich der Elbe "stumpf im Sumpf" gehockt hätte, 
          wäre ein fundamentaler Irrtum." Was er meinte, verdeutlichte 
          sich in den Exponaten, die Restauratorin Gerholt ausgebreitet hatte. 
          Da lagen Dalmatiken, Tuniken, Alben, Stolen, Paramente, Kaseln, Chormäntel... 
          Viele Stücke waren nach all den Jahrhunderten nicht mehr so ganz 
          taufrisch und riefen nach der Hand der künstlerisch auf der Höhe 
          ihres Handwerks agierenden Geertje Gerholt. Zwar wird nach einem grundlegenden 
          Paradigmenwechsel in der Restaurierung nur noch konserviert und nicht 
          mehr originalgetreu ausgebessert. Was aber noch an Artefakten erhalten 
          ist, macht sprachlos und demütig angesichts der immensen Kunst 
          der Alten. "Bei manchen Techniken sind wir der Kunst der Vorfahren 
          noch immer nicht auf die Schliche gekommen", gibt die Meisterin 
          offen zu. Sie zeigt das Foto eines ungarischen Krönungsmantels 
          aus dem 11. Jahrhundert, in dem 60 Goldfäden pro Quadratzentimeter 
          verarbeitet wurden. Kein Mensch weiß, wie man damals so feine 
          Golddrähte zu ziehen vermochte, niemand weiß, wie man so 
          etwas ohne Mikroskop verarbeiten konnte. Die Geburt Antony van Leeuwenhoeks 
          lag quasi noch in den Sternen und in ferner Zukunft. Gewänder, 
          so prachtvoll gestaltet, so reich verziert, so kunstsinnig verarbeitet, 
          mit so kostbaren Materialien ausgestattet, dass man damals wie heute 
          für den Gegenwert sicher ganze Dörfer hätte kaufen können, 
          zeugten nicht nur von einem ausgeprägten Fernhandel - einige Stoffe 
          und Muster lassen sich bis nach Zentralasien zurückverfolgen - 
          sie repräsentierten auch den unbeschränkten Anspruch auf die 
          Macht im Lande. Wer so etwas trug, musste sein Mandat von ganz oben 
          haben. Das wurde selbst dem ärmsten wendischen Fischer klar, der 
          in seiner bettelnden Not noch immer nach Perun, Swantewit und Trigalf 
          schrie. Insofern ging der PR-Coup des Brandenburger geistlichen Agit-Prop-Spezialisten 
          von 1196 auf. Wer bei dieser Sonderführung das Glück hatte, 
          einen Blick auf diese textilen Schätze zu werfen, der wird demnächst 
          sicher mit anderen Augen durch die Reihen der Konfektionskaufhäuser 
          gehen und nur noch denken: "Ach Gottchen, wie schlicht... wie billig!" 
          Einen gewissen praktischen Nährwert zeitigte die Führung auch 
          noch: Geertje Gerholt verwies auf einige Makulaturen - mittelalterliche 
          Papierbögen, die einst als Briefe oder Rechnungen beschrieben und 
          dann als Innenversteifung von Stickereien auf den Paramenten verwendet 
          wurden. Eine pfiffige und charmante Idee: Fragt das Finanzamt nach gewissen 
          Rechnungen, braucht man nur noch auf den Stresemann, den Cutaway, den 
          Zweiteiler oder den Frack zu weisen - vorausgesetzt, man hat Stil und 
          den entsprechenden Anzug an! Eines aber nahm der Besucher in jedem Falle 
          aus der Führung mit: Das Gerede vom finsteren Mittelalter ist im 
          Angesicht solch schimmernd-strahlender liturgischer Bekleidung dummes 
          Gewäsch. Wer solche Techniken ersann und umsetzte, der braucht 
          sich vor der Moderne nicht zu verstecken!