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Vom Sinn der Avocado
Christiane Ziehl führt am BT die Feuchtgebiete auf

Michael L. Hübner
Vielleicht sind es die zweitausend Jahre Christentum, die dem Abendland eine so rigide Sexualmoral übergeholfen haben, dass dieser Befreiungsschlag nötig war. Charlotte Roche brach mit jedem noch existierendem Tabu. Allerdings waren diese Tabus seit ewigen Zeiten schon hohle, tönerne Gefäße – selbst Marquis de Sade hatte bereits vor zweihundert Jahren vom Leder gezogen, dass die Schwarte krachte und saß dann auch postwendend dafür in der Irrenanstalt von Charenton, bis der Tod ihn erlöste. Man konnte treiben, was immer man wollte, solange man es nicht in der Öffentlichkeit trieb. Einschlägige Zeichnungen der Griechen, der Römer, der Ägypter, der Völker des Barock beweisen hinlänglich: Zur Erlangung eines sexuellen Höhepunktes wurde noch nie etwas ausgelassen, was landläufig den Begriff der Perversion erfüllt. Nur – und deshalb saß der unglückliche Marquis ja im Irrenhaus – es musste alles mehr oder weniger versteckt geschehen, unter der Decke, in aller Heimlichkeit, Entree ins Separee nur mit Empfehlung.
Roche stürmte die letzte Bastion, mit der sich auf dem Literaturmarkt noch Furore machen lässt, und eigentlich – Hand aufs Herz oder wohin auch immer – das Buch entbehrt so jeglicher Substanz. Die Geschichte ist unserer Einschätzung nach fade, gestalt-, saft- und kraftlos. Da ist ein achtzehnjähriges Mädchen – also, achtzehn muss sie schon sein, darauf achtet unser Säkulum noch – die leidet an Hämorrhoiden und an der Trennung ihrer Eltern. Sie liegt im Krankenhaus und sinniert und bändelt mit dem Pfleger an und mit den Auswirkungen ihrer Pubertät... Auf Teenies, die selbst noch um ihre Identität ringen und um die Position in der Gesellschaft, deren Eltern das Areal um die Lenden herum immer noch verschämt als Pfui-Gebiet deklarieren, mag der Stoff ja unheimlich attraktiv wirken. Einem alten Faun aber, der in jungen Jahren die Medizin und Anatomie studierte, ringt das Beziehungsgefüge der Helen Memel, in das sowohl ihre Eltern, der Pfleger, als auch ihre Genitalien bis hin zum Po einbezogen sind, bestenfalls ein müdes Gähnen ab. Ach, Helen, werde erwachsen und lerne, dass es noch mehr gibt auf der Welt als die Lustgefühle, die ein Duschkopf an Deiner Vulva auslöst oder Dein Nichtverstehen-Können, dass Menschen sich wandeln und ihre Liebe sich irgendwann einmal in Gleichgültigkeit verkehrt. Paradiese, die man einst hatte, lassen sich selten zurück zwingen. Bestenfalls kann man daran arbeiten sich neue zu schaffen. Also bleibt Roches Protagonistin Helen gefangen in ihrer kleinen Welt von Pos und Geschlechtsorganen, der Suche nach Lustgewinn und wir vermissen den geringsten Bezug zu den übrigen Wundern der Welt, wenn wir von den zu Biodildos gezüchteten Avocados einmal absehen. Wo bleibt Bachs Musik, wo das japanische Kirschblütenfest, wo das Kalben der Gletscher Grönlands, wo die Musik und Tanz der Neger Afrikas und die mystische Schönheit der Highlands oder Macchu Picchus? Gibt es außer den Beziehungen zu einzelnen Teilen des Körpers und der eigenen Familie nichts anderes mehr, was das Leben verlohnte? Im Groben ist das der Hauptansatzpunkt der Kritik des Landboten an Roches Werk. Die angebliche Schamlosigkeit interessiert uns herzlich wenig. Wir, die wir der paulinischen Körperfeindlichkeit seit langem skeptisch gegenüber stehen, sind alles andere als geschockt. Die verlogene Spießigkeit der westlichen Hemisphäre ist für uns nicht mehr als ein absurder Anachronismus, verantwortlich für millionenfache Bigotterie. Was wir der kleinen Helen am meisten wünschen, ist: Mädel, bekomme irgendwann einmal einen Sinn dafür, dass es noch mehr Schönes auf Erden gibt als Dein notorisches, Dich so ganz auszufüllen scheinendes Herumgespiele an Dir selbst.
Achtung hingegen zollen wir der Interpretation Christiane Ziehls, der Chefin des Brandenburger Jugendtheaters und ihrer Truppe, die das Stück grandios übersetzte. Vom reduzierten und doch sehr eingängigen Bühnenbild bis hin zu den außerordentlich professionell agierenden Nachwuchs-Mimen, von der Gratwanderung zwischen den Abgründen vulgärer Pornographie und der einschläfernden Wirkung einer Psychoanalyse eines immer noch mit seiner Pubertät ringenden Mädchens, bis hin zu einer fehlerfreien, beinahe zweistündigen Umsetzung des eben nicht leicht für die Bühne zu übersetzenden Stoffes fand Frau Ziehl zu einer Inszenierung, die nicht umsonst bis zur letzten Aufführung ausverkauft ist.
Was die Jugendlichen auf der Brandenburger Studiobühne in Szene setzten, verdient mehr als Respekt. Das Stück verlangt von den jungen Menschen Überwindung und ein Übermaß an Professionalität und schauspielerischem Können. Gerade die fünffach besetzte Helen – ein Geniestreich übrigens der begnadeten Regisseurin Ziehl – ist von der Kritik nicht hoch genug zu loben. Die fünf jungen Damen sahen ihrem Publikum fest in die Augen, fixierten es, zwangen es zu folgen. Der Skandal, um dessentwegen so mancher ins Theater gekommen sein mochte, blieb aus, nicht zuletzt geschuldet der mimischen Glanzleistung dieser fünf Mädels. Sie transportierten das sich selbst suchende, in sich zerrissene Mädchen Helen Memel so grandios und facettenreich, einander dermaßen ergänzend und von solch überwältigender Synchronität auf die Bühne, dass der Kritiker, sei er noch so verknöchert, nur noch wie jener Kirchenfürst im Angesicht des nackten David Michelangelos sagen kann: Er widerspricht zwar eklatant unseren Moralvorstellungen, aber er ist einfach nur – göttlich! Etwas zu hektisch und aufgedreht begegnete uns die Figur des Professors, war er als Karikatur angelegt? Auch der Rest der Nebenrollen mit Ausnahme des Anästhesisten kam nicht so recht zum Tragen. Allen außer den Helens fehlte diese scheinbare Fluffigkeit, dieses aus der Hand spielen, diese absolute Verinnerlichung der vorgegebenen Identität, der Rolle eben. Es sieht beinahe so aus, als hätte Christiane Ziehl den Fokus direkt und bewußt auf die fünf Helens gelegt, und um diese auch recht zu unterstreichen, die Farbigkeit der Begleitrollen etwas heruntergefahren. So fanden wir uns in einer Art Kammerstück wieder, einem Einakter, der es auf die beachtliche Länge von beinahe zwei Stunden brachte und nur von Zeit zu Zeit einen running gag, wie den etwas hilflos wirkenden Zivi integrierte, der sich lediglich zweimal nach dem Stuhlgang erkundigen durfte.
Alles in allem ist diese neueste Produktion des Jugendtheaters jedoch wieder einmal ein kulturelles Muss! Die ausverkauften Termine sprechen eine gleichlautende Sprache. Man gewinnt die Befürchtung, das Jugendtheater wüchse nach und nach in die Rolle eines Feigenblattes hinein, das sich das Brandenburger Theater in Ermangelung eines festen Ensembles schmückend um die Lenden bindet. Was die Alten dem Theater an finanziellen Mitteln knausernd versagen, holen 15 enthusiastische Jugendliche wieder heraus zum höheren Lobe und Ruhme der Brandenburger Theaterlandschaft. Das ist das eigentliche Absurdum. Darin liegt der wirkliche Skandal begründet, der die Brandenburger auf den Plan und ins Theater locken sollte: Mit ihrer Schauspielkunst und ihrem Bühnenblut im Herzen beschämen diese Kinder und Jugendlichen all jene, die das Brandenburger Kulturleben peu a peu auszutrocknen gedenken, weil sie ihm keinen direkten finanziellen Mehrwert zusprechen. Ach, wenn diese Leute sich doch nur beschämen ließen... Jede Produktion des hervorragenden jungen Ensembles aber bedeutet ein weiteres starkes Argument für den Erhalt einer funktionierenden Schauspielbühne im Theaterpark.

 
B
8. Volumen

© B.St.Ff.Esq., Pr.B.&Co,2009
11.04.2010