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Der zweite Sturz des Ikarus
Ist Hellas noch zu retten?

J. - F. S. Lemarcou
Soll die Union nun die Griechen retten, oder soll sie nicht? Es ist eine fürchterliche Zwickmühle, eine Fahrt zwischen Scylla und Charybdis. Wenn sich die Finanzminister der Unionsstaaten dazu entschließen, weitere Milliarden an den Hellespont zu pumpen, so wird zwar der in zwei Wochen drohende Staatsbankrott abgewendet. Allerdings sieht es momentan danach aus, als wäre diese gewaltige Pleite nur aufgeschoben statt aufgehoben! Der Fluß weiterer Gelder bedeutet also die Befüllung eines Fasses ohne Boden. Versorgt man die Griechen weiter, dann riskiert man nach heutigem Kenntnisstand, dass statt einem Mitglied der Währungsunion derzeitig alle europäischen Staaten etwas später in ganz schweres Fahrwasser geraten. Verschiedene Finanzexperten orakelten das Ende des Euros schon für das Jahr 2015. Sie könnten diesen Zeitrahmen bereits zu weit gesteckt haben. Eines ist klar: Kippt der Euro, dann kippt die Union. Kippt die Union, dann kippt die europäische Friedensordnung.
Andererseits wurde die EU gerade auch aus dem Grunde aus einer blutigen Nachkriegs-Taufe gehoben, um einerseits endlich einen dauerhaften Frieden auf dem Kontinent zu gewährleisten, was andererseits unter anderem dadurch gewährleistet wird, indem man das Wirtschaftsgefälle zwischen den einzelnen europäischen Staaten nivelliert und damit innereuropäischen Spannungen das Wasser abgräbt. Das impliziert folgerichtig, dass die Starken bereit sind, mit den Schwachen zu teilen und diesen unter die Arme zu greifen, wenn es spitz auf Knopf geht.
Das Problem ist: Das kann man einmal machen, zweimal auch... Wenn es aber nach Griechenland auch in den portugiesischen, irischen und spanischen Nationalökonomien gefährlich zu knirschen beginnt, dann reicht die gebündelte Kraft der paar Starken am Ende nicht mehr aus, zumal sich ebenjene Kraft nur sehr schwer bündeln lässt. Zu unterschiedlich sind noch immer die Interessen der Mitgliedsstaaten eines alles andere als homogen strukturierten Kontinents! Es ist eben nicht das Imperium Karls des Großen!
Es ist wenig hilfreich zu erörtern, wo die Schuldfrage liegt. Wie immer zeigte sich, dass das Gegenteil von "Gut" eben nicht "Böse" ist, sondern "Gutgemeint". Man wollte niemanden ausschließen, keinen marginalisieren, alle in die brüderlichen Arme nehmen. Einen Staat wie Griechenland, aus dessen Mythologie und Sprache sich der Name des okzidentalen Erdteils herleitet und der diesen Kontinent als Zugabe noch mit der Idee der Demokratie beglückte, aus der Europäischen Union fernhalten zu wollen, verbot sich verständlicherweise. Verständlicherweise?
Wir verstehen die Regung des Herzens, die dahinter steckt. Aber Herz und nüchterne Bilanzen reden selten dieselbe Sprache. Griechenland war nicht so weit. Die verantwortlichen Hellenen lieferten getürkte Zahlen nach Brüssel und Brüssel ließ sich nur zu bereitwillig blenden. Das alles läßt sich nicht mehr ändern. Man kann nur noch das Beste aus der Misere machen, nun, da das griechische Kind in den Brunnen gefallen ist. Was aber ist das Beste? Was? Die Griechen aus dem Staatenbund entlassen und damit für einen viel höheren Preis nachholen, was man gar nicht erst hätte beginnen dürfen? Was für ein fatales Signal! Die Europäische Union degenerierte zu einem exklusiven Golfklub, Eintritt nur mit Goldener American Express Card! Das wäre das Geläut der Sturmglocken, welches nach unserem Dafürhalten unweigerlich den Untergang des Vereinigten Christlichen Abendlandes einläuten würde. Dieser Riß würde die EU sprengen und das ist so sicher, wie das Amen in der Kirche. Wie die Dominosteine würden die Nächsten purzeln, Portugal, Spanien, Irland, Rumänien, Bulgarien, Ungarn... Was bliebe, wäre ein starker "Nord-Euro". Wirklich? Wäre der so stark? Was und wohin und für welche Gegenwerte wollen denn die paar Hanseln dann innerhalb Europas noch exportieren? Wollen sie dann wieder für ihre Exporte ein paar hilflose Drachmen, irische Pfund, Peseten, Escudos, Lewa und Lei akzeptieren? Was fangen sie mit diesen Geldern an den Börsen von New York, Frankfurt und Tokio an? Für die absaufenden U.S.A. wäre ein solcher Entschluss ein echter Schenkelklopfer, die Chinesen und Inder würden den Tag, an dem Griechenland der facto und oder de jure aus der EU entlassen wird, zu Nationalen Feiertagen erklären, denn der kümmerliche "starke Norden" wäre in kürzester Zeit reif zum Pflücken. Man vergesse doch nicht: Ein weiterer Impuls, welcher der Gründung der EU zugrunde lag, bestand in der Schaffung eines Binnenmarktes, der den ungeheuren Wirtschafsblöcken der U.S.A. und der Ostasiaten etwas entgegensetzen wollte. Das hätte sich spätestens im Falle des Ausscherens schon des ersten Mitgliedslandes der Union erledigt.
Im Jahre 1244 drehten die Asiaten, die bereits auf ihren flinken Pferdchen bis nach Krakau und Liegnitz gekommen waren, abrupt um. Sie wollten nur mal schauen, wie der alte Kontinent so aussieht, ließ sich Fernau einst launig vernehmen. Ein paar Meilen weiter und ein paar Monate später und der alte Kontinent hätte unisono mongolisch gesprochen. Vielleicht war es nicht einmal ein Fehler, denn damals waren die kommunikativen Möglichkeiten zur Regierung eines Reiches von so gewaltigen Ausmaßen nicht gegeben. Zwei Jahrhunderte später setzte Admiral Zheng He mit der größten Flotte aller Zeiten zum Sprung über den Globus an. Abermals entschloß sich eine asiatische Supermacht, den Schlüssel zur Weltherrschaft, den sie bereits in den Händen hielt, wieder wegzulegen. Sie bezahlten bis in die Neuzeit hinein bitter dafür. Man kann den Asiaten manches unterstellen. Dass sie aber so dußlig wären, einen solch kapitalen Fehler zum dritten Mal zu begehen – das erscheint denn doch recht unwahrscheinlich. Europa ist nur eine kleine Halbinsel der asiatischen Landmasse. Alle Europäer gemeinsam, selbst, wenn sie sich entschlössen, viel näher an die arroganten, sich noch immer für den Nabel der Welt haltenden U.S.A. heranzurücken, brächten nicht einmal ein Viertel des Bevölkerungspotentials der Inder und Chinesen auf die Waage. Doch die Amerikaner kochen ihre eigene Suppe und bedürfen der Europäer lediglich als einen Haufen von Aftervasallen.
Diese selbst sind in sich so uneins wie ein loser Haufen Reisig – leicht zu brechen. Eine Kette ist alleweil so stark wie ihr schwächstes Glied. So gesehen ist ganz Europa derzeit so schwach wie Griechenland. Wenn also die okzidentalen Führungsnationen das Mutterland der Demokratie jetzt im Stich lassen, graben sie sich selbst langfristig das Wasser ab. Hellas kann alleine nicht mehr existieren. Wie denn? Die internationalen Wirtschaftsverflechtungen haben bereits ein Ausmaß angenommen, dass eine nationale Autarkie nur um den Preis bitterster Armut erzielt werden könnte. So oder so ist Griechenland also auf Europa angewiesen und – Europa aus den oben genannten Gründen auf Griechenland.
Die jüngst aufgetauchte Argumentation, Griechenland hätte gerade von deutscher Seite her ein Anrecht auf eine zinsgünstige Unterstützung, da es mit seinem Verzicht auf angemessene Reparationen für die Schäden aus der deutschen Besetzung seinen Beitrag zum wirtschaftlichen Aufschwung Deutschland mitgeleistet hätte, verfängt nur unzureichend. Daraus lässt sich in der vierten und fünften Nachkriegsgeneration bestenfalls ein moralischer Anspruch ableiten, der allerdings hinter der paneuropäischen Verpflichtung zu gegenseitiger Solidarität zurückstehen muss.
Ministerpräsident Papandreou hat sich dem Mißtrauensvotum seines Parlamentes gestellt und obsiegt. Wahrscheinlich, weil ihn wirklich niemand um den Scheiß-Job beneidet, den er nun vor sich hat. Die Straße rund um den Areopag und die Akropolis hätte ihn sicherlich gelyncht. Mit welchem Ergebnis? Wer von den aufgebrachten Demonstranten würde sich dann an seine Stelle setzen und den verfahrenen Karren aus dem Dreck ziehen. Der Krawall, den die Griechen jetzt veranstalten, nutzt ihnen wenig. Er zeugt von ihrem Unmut, sicher. Aber er beweist auch ihre Kurzsichtigkeit und ihr Unverständnis von den Dingen. Wenn sie glauben, damit die europäischen Nationen als potentielle Geldgeber unter Druck setzen zu können, so sind sie schief gewickelt. Sie brauchen doch nicht viel Phantasie dazu, sich vorzustellen, wie sie handeln würden, wenn die Dinge anders lägen und sie gefordert wären, beispielsweise Albanien aus dem Sumpf zu ziehen. Doch soweit wollen sie nicht denken. Die Griechen sehen nicht weiter als bis zur eigenen Nasenspitze. Das ist ihnen nicht einmal vorzuwerfen, denn, was sich auf den Plätzen und Straßen Athens abspielt, ist nur allzu menschlich.
Was also ist zu tun? Die Europäer müssen helfen. Zu diesem Schritt gibt es keine vernünftige Alternative. Sie müssen jeder ihr Scherflein dazugeben, bis an den Rand der nationalen Belastbarkeit. Im Gegenzuge erwerben sie das Recht, die griechische Wirtschaft bei der Hand zu nehmen. Zwangsverwaltung? Kuratel? Hört sich vielleicht hart an – trifft es aber. Es mag den Griechen passen oder nicht – wer sich seinen Stolz nicht leisten kann, muss sich in Demut üben. Das gilt für jeden Bettler auf der Straße – das gilt auch für Erfinder der Demokratie!
Brüssel und Straßburg müssen gestärkt werden! Natürlich – und das wäre der durchaus positive synergetische Effekt an der Geschichte – auch in Hinblick auf die übrigen, jetzt noch potenten Mitgliedsstaaten. Denn: Hodie mihi – cras tibi, sagten die alten Römer – heute ich, morgen du!
Ein letzter Aspekt sollte in diesem Beitrag nicht unberücksichtigt bleiben: Seit Jahr und Tag klopft die Goldene Pforte an die Türen der Europäischen Union. Das entbehrt nicht einer gewissen Komik. Wir, die wir bisher die leicht ironisch angehauchte Ansicht vertraten, Konstantinopel möge die Vollmitgliedschaft gewährt werden, sobald das Kreuz wieder das Dach der Hagia Sophia krönt, würden unter den gegenwärtigen Umstand einem schnellen Beitritt das Wort reden. Der türkische Wirtschaftsmotor brummt. Die Osmanen würden ad hoc zu einem potentiellen Geberland avancieren. Wäre das nicht eine wunderbare Brücke zur Verständigung zweier seit sechshundert Jahren bis aufs Blut verfeindeten Völker, wenn die Söhne Atatürks nunmehr den Griechen unter die Arme griffen – oder würden sich die Hellenen nach dem Beispiel ihrer antiken Helden eher selbst in ihre Schwerter stürzen, ehe sie auch nur einen Dinar aus den Händen der "von Gott verfluchten Muselmänner" nähmen? Wir böten einen Ausweg, bei dem niemand das Gesicht verliert. Griechenland reklamiert beim Topkapi Reparationen für das geklaute Byzanz und den Osten Zyperns. Das dürfte reichen, um den griechischen Staatshaushalt nachhaltig zu sanieren... Nachhaltig? Nun ja, die Türken als Retter in der Not hätten ja mit ihrem Scheck ein Recht erworben, inskünftig ein Auge auf die griechische Nationalökonomie zu werfen. Na dann, Jamas, Hellas!

19. Volumen
© B.St.Ff.Esq., Pr.B.&Co,2009
22.06.2011