Die Kraft der leisen Töne
          Christina Dishur erinnert sich an die Wendejahre
        
        von Michael L. Hübner
          Der Krieg hatte den Eltern nicht viel gelassen. Doch die Liebe zur Familie, 
          die konnte ihnen niemand nehmen. So war es eine warme, eine fürsorgliche 
          Welt, eine Welt des kulturvollen Miteinanders, in die Christina Dishur 
          im März 1955 hineingeboren wurde. Es war die Art Familie, in der 
          trotz Behütung – sicher auch eine Folge der Kriegstraumatisierung 
          der Eltern – der Widerspruchsgeist wächst. Ein Klima, das 
          Persönlichkeiten schafft, die sich nicht kritiklos in einem autoritären 
          Staat einzurichten. Den Beruf einer Heimerzieherin erlernte Christina 
          Dishur. Ihr Leben spielte sich im kirchennahen Bereich ab. So gab es 
          lange Zeit wenig Berührung und wenig Reibereien mit der sozialistischen 
          Obrigkeit. Die Kirche bot Vielen ein schützendes Dach. Das änderte 
          sich mit einem Schlag, als Christina Dishur gemeinsam mit einer Kollegin 
          an einem von Westberlinern im Osten angebotenen Seminar über Familien- 
          und Paartherapie teilnahm. Ein Novum in der DDR. Vergleichbares gab 
          es nicht. Aufgeregt diskutierten die beiden Frauen das Gehörte 
          auf der Heimreise in ihrem Auto und verpassten eine Autobahnabfahrt. 
          Geradewegs steuerten der Wagen auf den Grenzübergang Dreilinden 
          zu. Als sie dessen gewahr wurden, hatte die VP sie auch schon im Visier. 
          Bis Mitternacht hielt man die Verhafteten in Potsdam fest. Zu unglaublich 
          erschien den Genossen die Erklärung. Unfug! Die wollten einfach 
          bloß in den Westen abhauen! Basta! Derweil warteten zu Hause zwei 
          kleine Töchter auf die Heimkehr ihrer Mutter... Die Zweifel an 
          Christina Dishur waren aus Sicht der Polizei nicht unberechtigt. Schon 
          als Teenager wurde sie in der Kategorie “feindlich-negatives Element 
          mit subversiven Ambitionen” geführt. Der häufige Besuch 
          christlicher Jugendlicher aus Mannheim, angeblich alles Verwandtschaft, 
          der Umstand, dass bei Ihr, die damals schon einen Telefonanschluss besaß, 
          viele systemkritische Fäden aus Brandenburg zusammenliefen, dieses 
          ganze Engagement im Friedenskreis zu einer Zeit, als noch nicht einmal 
          an Gorbatschow zu denken war – das alles machte Christina Dishur 
          doch sehr suspekt. Dennoch ließ man sie 1986 zu einer vierzehntägigen 
          Dienstreise in den Westen reisen. Selbstredend verblieben die Töchter 
          in der DDR! Hoffte man, die störende Frau billig loszuwerden um 
          dann die Seelen der Kinder für die Partei retten zu können? 
          Doch Christina Dishur kam zurück. Und immer wieder dachte sie: 
          Wenn doch die übermächtigen Russen nicht im Lande stünden! 
          Man könnte dann leichter etwas zum Positiven bewegen. Dann aber 
          erwuchs mit Gorbatschow ausgerechnet aus dem Kreml ein “Kräftezuschub”. 
          Man wurde mutiger, kühner im Auftreten. Es zeichnete sich aber 
          auch ab, dass die Formierung einer Opposition keineswegs mehr das Jugendabenteuer 
          von einst war. Die alten Machthaber wurden nervös. 9 IMs setzten 
          sie auf Christina Dishur an. Kurze Zeit später gehörte sie 
          dann zu denen, die mit dem 1. Sekretär der SED-Kreisleitung Winfried 
          Mitzlaff an einem Tisch saßen. Mitzlaff hatte geladen, den Tisch 
          mit Kaffee und Kuchen gedeckt und – erbat von den „Subversiven“ 
          ein Rederecht auf der Demonstration vom 11.11.89. Die Machtlosen von 
          gestern gewährten es ihm. “Die Zeit war irgendwie daneben...”, 
          sinniert Christina Dishur. Die Angst, wie sich die Dinge entwickeln 
          würden, war präsent. Würde Mitzlaff immer noch Kaffee 
          und Kuchen hinstellen, wenn sich die Dinge morgen drehen würden? 
          Die Demonstration – würde sie friedlich bleiben? Wie viele 
          würden kommen? Was, wenn einige austickten, provozierten, randalierten? 
          Es blieb zum Glück ruhig. Mitzlaff sprach. Das Volk buhte, Wolfgang 
          Rudolph drehte das Mikrophon ab. Doch niemand kam zu Schaden und die 
          Russen blieben in ihren Kasernen. An einigen Runden Tischen saß 
          Christina Dishur dann noch, später wurde sie Kommunalpolitikerin 
          in der SVV. “Das war meine Sache nicht”, resümiert 
          die studierte Sozialpädagogin, Supervisorin und Coacherin heute. 
          “Zu ungestüm das Temperament. Ich nehme zu schnell Dinge 
          persönlich.” Einige Entscheidungen von damals bereut sie 
          nachgerade. Trotzdem war eine spannende, eine aufregende Zeit, in der 
          man etwas gestalten konnte – „...aber wir haben auch erheblich 
          Fehler gemacht.” Und dann erzählt sie von denen, die zu den 
          Leuten vom Friedensarbeitskreis kamen, um sich für den Erhalt ihrer 
          Posten einen Persilschein bezüglich ihrer Tätigkeit als IM 
          ausstellen zu lassen. Und sie erzählt, wie unterschiedlich und 
          differenziert die Motivationen derer waren, die sich einst mit der Stasi 
          eingelassen hatten und wie schwierig eine sachgerechte Beurteilung der 
          einzelnen Fälle. Das liegt nun hinter ihr. Heute ist Christina 
          Dishur mit ihrem Beruf ausgefüllt, mit ihrer Familie, für 
          die sie dankbar ist und ihrer Liebe zur Musik, zur afrikanischen vor 
          allen Dingen. Ein wenig kontrastieren die Buschtrommeln zu der ruhigen 
          und besonnenen Frau, die so aufmerksam zuhören kann und geistreich 
          das Gehörte zu wägen versteht. Und die endlich all die Bücher 
          lesen kann, die vor der Wende kaum zu bekommen waren...