OMNIA TEMPVS QVOD SEMPER FUGIT MVTAT
        Bornholm im Wandel
        
          Kotofeij K. Bajun. Gudhjem. Im 
          Oktober 1996 machten ein 32jähriger Mann, seine 29jährige Ehefrau und 
          die gemeinsame sechsjährige Tochter einen Spaziergang durch das Städtchen 
          Gudhjem an der Ostküste Bornholms. „Gottesheim“, so lässt sich wohl 
          der Name des kleinen Hafenortes am Trefflichsten übersetzen.
         „Gottesheim“ 
          … Das stimmt so wunderbar überein mit der Sage, welche die Bornholmer 
          über die Entstehung ihrer Insel zum Besten geben. Als nämlich Gott nach 
          der Erschaffung der Welt von allen schönen Ecken noch jeweils ein Klümpchen 
          übrig hatte, knetete ER es zusammen und warf es in die Ostsee. Fertig 
          war – Bornholm.
         Angesichts der 
          berauschenden Schönheit der Insel ist diese Mär durchaus nachvollziehbar, 
          auch wenn sich der Allmächtige Vater Israels mit dem Wurf Zeit ließ. 
          Dieser erfolgte nämlich tatsächlich in einer Spanne von vor 1,7 Milliarden 
          bis vor 65 Millionen Jahren. Die Politur erfolgte dann noch einmal durch 
          Gottes Gletscher, die vor ca 15.000 Jahren ihren bis dato letzten Rückzug 
          antraten.
          
          Die Zeit also hat aus Bornholm in ihrem Verlauf das gemacht, was es 
          heute ist und sie ist weit davon entfernt, Hammer und Meißel aus der 
          Hand zu legen. Weiterhin nagen Wind, Wetter und Ostsee an dem Block 
          aus Granit und Sandstein, der als Insel aus den baltischen Wellen ragt. 
          Doch nicht nur dort hinterlässt diese große Umgestalterin ihre Spuren.
          
          Es heißt, eine Landschaft forme die Menschen, die in ihr leben, zu einem 
          eigenen Schlag. Ohne dem Irrtum der alten Physiognomisten verfallen 
          zu wollen – besonders schöne Landschaften scheinen einen besonders umgänglichen 
          und liebenswerten Charakter ihrer Bewohner hervorzubringen.
          
          Kehren wir also zurück zu der kleinen Familie, die im Oktober 1996 von 
          Melsted her ins Städtchen, in Richtung des kleinen Hafens wanderte.Vor 
          einem der gelb getünchten Häuschen blieb die Frau stehen und bewunderte 
          die Keramik und die Glaswaren, welche in den gardinenlosen Fenstern 
          präsentiert wurden.
          
          Wohlgemerkt standen diese Stücke nicht zum Verkauf an. Die Hausbewohner 
          wollten den Vorübergehenden einfach eine Freude machen. Die Tür ging 
          auf. Eine freundliche Dame trat hervor und sprach das Paar auf Dänisch 
          an, erkannte aber bald, dass es sich um Deutsche handelte und lud die 
          drei Spaziergänger mit dem lebhaften Interesse an ihren Gläsern und 
          Tellerchen zu Kaffee und Kuchen in die Stube ein. Das gegenüberliegende 
          Fenster öffnete den Blick zum Meer, hinüber nach Christians Ø, der Schäreninsel 
          zehn Seemeilen vor der Küste, dem östlichsten Vorposten des Königreichs 
          von Königin Margarete. Dort begann bereits der Leuchtturm alle fünf 
          Sekunden seinen Strahl in Richtung der Bornholmer Küste zu entsenden.
          
          Es war wunderlich mit der Insel, ein wenig so, wie in den DDR-Dörfern 
          der sechziger Jahre. Kein Haus oder Hof waren abgeschlossen. Ebensowenig 
          die Fahrräder. Wer denen dennoch ein Schloß umtun wollte, wurde entgeistert 
          angestarrt: Wozu das? Diebstahl war hier unbekannt.
          
          Der junge Mann fuhr einen 1,8er Opel Ascona, der zu diesem Zeitpunkt 
          neun Jahre alt sein mochte. Damit war er mit dem mutmaßlich jüngsten 
          Auto auf der Insel unterwegs. Die wenigen anderen Gefährte, denen er 
          begegnete, hätten in Deutschland bereits samt und sonders ihren Anspruch 
          auf ein H-Kennzeichen anmelden können.
          
          Die Mentalität der Menschen war überwältigend anders als diejeigne der 
          Berliner, zu denen die kleine Familie zählte. Ging der Mann in Berlin-Lichtenberg 
          nur schwerbewaffnet wie ein altrömischer Sicarius aus dem Haus, war 
          man auf Bornholm von einer Friedfertigkeit umgeben, die auf der Welt 
          ihresgleichen suchte.
          
          So hob der Mann eines Abends an einem Geldautomaten 3.000 Kronen ab, 
          was in etwa DM 750,- entsprach. Das war die Hälfte seines damaligen 
          Monatslohnes. In Nexø fuhr er an einem Hutgeschäft vorbei, in dessen 
          Schaufenster ein Strohhut lag, den zu kaufen sich die Ehefrau sehnlichst 
          wünschte. Bescheiden, wie sie sonst war und nur sehr selten etwas für 
          sich reklamierte, wollte ihr der Mann den Gefallen tun. Er stellte den 
          roten Ascona am Hafen ab und sie schlenderten zum Hutgeschäft. Dort 
          angekommen fischte der Mann nach dem Geld und stellte mit eisigem Entsetzen 
          fest, dass er dieses auf dem Armaturenbrett seines Autos liegengelassen 
          hatte.
          
          Das Auto stand offen, die Scheiben waren unten – na, wie das eben auf 
          Bornholm üblich war. Wie von Sinnen rannte der Mann zum Hafen hinunter. 
          Das Geld war weg. Traurigkeit, Zorn auf die eigene Vergesslichkeit, 
          das schöne Geld, der Urlaub … der Strohhut. Alles futsch. Nur ein Zettel 
          mit einer dänischen Handschrift lag stattdessen dort, wo er die Kronenscheine 
          so fahrlässig liegengelassen hatte. Wahrscheinlich eine Danksagung für 
          das unverhoffte Geschenk, das einen Einzelnen damals auf Bornholm sicher 
          über den Monat bringen konnte. Niedergeschlagen trat die Familie den 
          Heimweg an.
          
          Der Mann ging zu seiner Wirtin Frau Inge Koch, die des Dänischen und 
          des Deutschen gleichermaßen mächtig war und diese übersetzte ihm: „Lieber 
          Autofahrer, damit der Wind ihr Geld nicht wegweht, habe ich mir gestattet, 
          es unter Ihrer Fußmatte zu deponieren.“ Mehr nicht.
          
          Ein zweiter Sprint zum Automobil an diesem Abend, er riss die Fahrertür 
          auf, die Fußmatte hoch und – da lagen dreitausend dänische Kronen. Nicht 
          eine fehlte. Gerne hätte er sich bedankt, aber der unbekannte Retter 
          oder die namenlose Retterin hatten ihm keine Gelegenheit dazu gegeben.
          
          Das war Bornholm.
          
          Das, und der kleine, allerliebste Tier- und Naturpark unterhalb der 
          Burgruine Hammershus, die noch eines Willkommenszentrums entbehrte, 
          und das ampellose Rønne, und die leeren Chausseen, auf denen Tempo 80 
          erlaubt war, aber niemand von sich aus schneller als 60 km/h fuhr.
          
          Rücksichtnahme, Geduld … Als er an einem Abend seine schwer erkrankte 
          Frau in seinem roten Ascona ins Rønner Krankenhaus bringen musste, war 
          er es, der ein altes Polizeiauto vor ihm regelrecht jagte. Die Polizei 
          versuchte allen Ernstes vor ihm zu fliehen. Doch der Ascona war dem 
          alten Polizei-Grackel gegenüber im Vorteil. Der Mann überholte und brüllte 
          zum Polizisten, den er ausgebremst hatte: „To the Hospital. It’s emergency. 
          Hurry up!“ Der Polizist freute sich wohl, dass er einmal seine Blaulichter 
          gebrauchen konnte und lotste den Mann in die Rettungsstelle am Ullasvej. 
          … Bornholm … 
        Im Übrigen: Die 
          Bornholmer Ärzte - keine Spur arrogant, keine Überheblichkeit ... Er 
          gab sich als Mediziner zu erkennen und nahm selbstredend seinen Platz 
          am OP-Tisch im Schockraum ein, um seine Frau zu reanimieren. Versicherungsfragen 
          waren gegenstandslos.
         Ab und zu flitzte 
          er in den Vorraum, um nach seinem Töchterchen zu sehen, die versonnen 
          und still - als einzige dort sitzend - in einem Plasteporello blätterte. 
          Dann wieder stracks zurück an den Tisch unter die grellen OP-Leuchten. 
          Man redete English und auf Augenhöhe. 
        Dieses Szenario 
          im Deutschen Reich? Undenkbar! Die Vorstellung allein nachgerade von 
          monströser Abstrusität. Das atmete noch die ungeheuchelte und unzertifizierte 
          Menschlichkeit in der Medizin, die er selbst noch im alten Bezirkskrankenhaus 
          Hochstraße von Brandenburg/Havel in den späten Sechzigern kennengelernt 
          hatte. Die Privatisierung des deutschen Gesundheitswesens hatte seither 
          den hippokratischen Eid zur Makulatur verkommen lassen, so wie die deutsche 
          Regierungspolitik seit 2015 das Grundgesetz.
          
          Dreißig Jahre später haben sich die Verhältnisse augenscheinlich geändert. 
          Die Haustüren sind nun mit modernen Schlössern versehen – die Fahrräder 
          auch. Die Automobile werden abgeschlossen. Moderne und große Karossen 
          prägen das Bild des Straßenverkehrs – diesmal ist es der Mann mit seinem 
          21 Jahre alten BMW, der ein Relikt aus der Vorzeit chauffiert. Die Fahrzeuge, 
          die auf den 80er Strecken an ihm vorüber rauschen, mehren sich, obwohl 
          die dänische Polizei mit rigoroseren Strafmaßnahmen aufwartet als die 
          deutsche.
          
          Der Polizeiwagen, der mit heulenden Sirenen an der kleinen Familie im 
          Hafen von Nexø vorüberfegt, ist ein sehr modernes Fabrikat.
          
          Den kleinen Tier- und Naturpark gibt’s nicht mehr. Ebensowenig den Flugplatz 
          Rø oder die Flugdirektverbindung nach Berlin-Tempelhof von Rønne aus, 
          die Fährverbindung nach Swinemünde, oder die Rundflüge über die Insel 
          – das alles ist dahin, dahin.
          
          Stattdessen ein neues Freizeitcenter – die Leute wollen das anscheinend 
          und auch die Bornholmer müssen nach dem Gelde gehen.
          
          In Åkirkeby hat eine Naturausstellungshalle eröffnet mit hochinteressanten 
          Belehrungen zur geologischen Entstehungsgeschichte der Insel, die doch 
          um einiges von der Volkssage abweicht und einen etwas komplizierteren 
          Verlauf nahm. Gerade an die Kinder wurde dabei gedacht – das Ausstellungskonzept 
          überzeugt auf der ganzen Linie und – die Leute sind so freundlich und 
          bemüht und geduldig wie seit jeher. Das zumindest hat sich nicht geändert.
          
          Bornholm – in den Zeiten Martin Andersen Nexøs und seines Eroberers 
          Pelle – da war auch diese Insel alles andere als ein Paradies. Dass 
          sie das auch in den Jahrhunderten zuvor nie war, davon zeugen die mächtigen, 
          kreisrunden Wehrkirchen, deren größte in Østerlars zu bewundern ist. 
          Man baut keine Kirchenburgen, wenn man nicht muss.
          
          Auch die drei Steinhaufen im Pedersker-Forst an der Straße Ølenevej, 
          Ølenevej Vaperne genannt, zeugen von wenig paradiesischen Verhältnissen 
          in der Vergangenheit. Es heißt, Sigurd hätte zu seiner Vermählung die 
          berüchtigte 13. Frau nicht eingeladen, die ihn daraufhin verflucht hätte. 
          So bekam Sigurd drei Söhne, die so wild und ungebärdig waren, dass er 
          sie von der Insel jagen musste. Dann waren ihm noch drei Töchter beschieden, 
          die an Schönheit und Güte ihresgleichen suchten. Als erwachsene Wikinger 
          kamen die Söhne zurück auf die Insel. Die drei Mädchen, die wohl auf 
          dem Weg nach Østermarie in die Kirche waren, erregten ihre Aufmerksamkeit 
          und ihre Begierde. Die jungen Frauen wurden von ihren eigenen Brüdern 
          vergewaltigt und ermordet – just an der Stelle, an der nun die Steinhaufen 
          aufgeschichtet seit Jahrhunderten liegen – und immer noch ein paar Blümchen 
          auf ihnen. Sigurd fasste die drei Verbrecher, entdeckte ihnen die grausame 
          Wahrheit und richtete seine am Boden zerschmetterten Söhne des Mordes 
          an ihren Schwestern wegen hin. Am Ende hatte er gar nichts mehr und 
          der Fluch der 13. Frau hatte sich erfüllt.
          
          Das alles darf man natürlich nie außer Acht lassen, will man sich nicht 
          in romantischen Fantasiewelten verlieren. Dennoch – 1996 war Bornholm 
          „hyggelig“, wie die Dänen sagen würden. Einen Teil dieser Hyggeligkeit 
          scheint es 2024 eingebüßt zu haben. Vielleicht haben aber auch die Jahresringe 
          des Mannes, der nun doppelt so alt ist wie damals, einiges dazu getan, 
          die Verklärung von einst zu relativieren.
          
          Vom deutschen König Heinrich I. überliefert unser geistiger Vater Dr. 
          Kurt Tucholsky folgende Anekdote: Einst, als er Abschied von einer reichen 
          Abtei unten am Bodensee nehmen musste, um wieder einmal hoch ins raue 
          und brutale Slawenland zu ziehen, als er noch einmal den Blick über 
          die duftenden Blumenwiesen und herrlichen Obstgärten der kultivierten 
          und gepflegten Klosteranlage schweifen ließ, da klagte er dem Vater 
          Abt: „Ach, wie gerne bliebe ich bei Euch. Es ist so wundervoll und paradiesisch 
          an diesem Orte!“ Der weise Abt antwortete mit einem einzigen Wort, doch 
          das ist uns seither in die Seele gemeißelt: „TRANSIVNTIBVS“. 
        Für alle, die 
          des Lateinischen nicht mächtig sind: „Den Vorübergehenden.“ Ja, lebe 
          hier und mit der Zeit wirst du auch die Sorgen und Nöte derer kennenlernen, 
          die du von Gott dem Herren privilegiert wähnst. Denn diese Sorgen und 
          Nöte sind auch hier bar jeden Zweifels zuhause. Die Wirtin des Fischrestaurants 
          am Hafen zu Nexø brachte es auf den Punkt: „Was macht ihr hier nach 
          einem halben Jahr, wenn alle Sehenswürdigkeiten erkundet sind? Wenn 
          die Winterstürme die Umwelt von Bornholm abgeschnitten haben und der 
          kalte Ostwind haushohe Wellen gegen die Küste peitscht. Wenn alles geschlossen 
          hat, wenn kein Kino, kein Theater, keine Veranstaltung für Abwechslung 
          sorgt. So viele Bücher könnt ihr gar nicht lesen, so viel Rotwein könnt 
          ihr gar nicht trinken.“
          
          Manchen Dingen aber scheint die Zeit Schonung gewährt zu haben. So schippert 
          die „Povl Anker“ noch immer zwischen Rügen und Rønne, der herrliche 
          Gotländer Taufstein aus der Aukirche hat kein Jota seiner Schönheit 
          eingebüßt, die Kamelsteine unterhalb der Feste Hammershus trotzen noch 
          immer unverzagt den anbrandenden Wellenungetümen, die der Westwind aufwirft.
          
          Das Krankenhaus am Ullasvej ist noch immer das beste, welches der junge 
          Mann von einst zu empfehlen in der Lage ist. Es beweist die Richtigkeit 
          der Feststellung des Dr. Jens Peter Last: „Das größte Verbrechen, dessen 
          sich die Bundesrepublik Deutschland schuldig machte, war die Privatisierung 
          des Gesundheitswesens.“ Hier hängen Qualitätsrichtlinien nicht ausgedruckt 
          und nichtssagend an der Wand – hier werden sie ausgelebt.
          
          Das Leuchtfeuer von Christians Ø sendet noch immer im Fünf-Sekunden-Takt 
          seinen warmen Strahl an die Ostküste der Zauberinsel und in die Herzen 
          derer, die es zu schätzen wissen.
          
          Eintausendsiebenhundert Millionen Jahre lang haben die Bornholmer Granite 
          und Gneise der Zeit widerstanden. Sie waren da, als Bornholm auf der 
          südlichen Hemisphäre herumwanderte, sie lagen tief auf dem Meeresgrund, 
          trotzten heißen Wüstenwinden, lagen inmitten subtropischer Urwälder, 
          sahen Saurier kommen und gehen und werden noch da sein, wenn es den 
          Nackten Affen und seine Leuchttürme längst nicht mehr gibt. Möglicherweise 
          werden sie erst schmelzen, wenn sich die Sonnen in ihrem Alter aufzublähen 
          beginnt, genau wie der junge Mann von einst. Der Zeit ist es egal. Sie, 
          die immer flieht, verändert alles.