Die Blautanne fällt
           im Gedenken an Frau Ruth Schröder 
          († 14. Oktober 2010)
        
        Michael L. Hübner
          Nun, da sie nicht mehr lebt, ist ihr geliebter Garten verwaist. Nur 
          wenige Wochen nach ihrem Mann, der Jahrzehnte lang von der Mulitplen 
          Sklerose gequält und gelähmt wurde, verließ Ruth Schröder 
          diese Welt. Eine kluge Frau, deren oftmals bestechendes Urteil mit zunehmendem 
          Alter durch ihre Einsamkeit getrübt wurde. In einem Punkt aber 
          blieb sie fest. Als der Spartenvorstand der Kleingartenanlage in Brandenburg-Kirchmöser 
          verlangte, den Bestimmungen des Deutschen Bundeskleingartengesetzes 
          (BKleingG) zufolge, die wunderschöne Blautanne vor ihrem Häuschen 
          zu entfernen, da weigerte sie sich standhaft. Der Vorstand duldete somit 
          die Tanne und die tapfere Frau schweigend. Jetzt hat die Tanne ihren 
          Schutz verloren. Ihre Tage sind gezählt. Es ist ein Jammer. Für 
          uns ist es ein Grund uns mit dem Sinn und Unsinn von Verordnungen zu 
          befassen, die ein Mitlebewesen das einzige Leben kosten, das es in vier 
          Milliarden Jahren geschenkt bekam. Für was? Was steckt dahinter?
          Die Kleingartenidee wurde initiiert, um dem Proletariat der Kaiserzeit 
          zweierlei zu bieten: Es sollte ein Ausgleich geschaffen werden zu den 
          langen Arbeitstagen in dunklen Fabrikhallen und dem anschließenden 
          Verdämmern in den unmenschlich finsteren, feuchten und tötenden 
          Mietskasernen. Zweitens sollte der Essenstisch des Arbeiters und seiner 
          Familie reichhaltiger gedeckt werden mit dem Selbstangebauten, dem selbst 
          gezogenen Obst und Gemüse, das der Arbeiter sich auf dem Markt 
          nicht leisten konnte. Größe und Gestaltung der Gartenparzellen 
          wurden diesen beiden Kriterien angepasst. Gartenland sollte nicht verschwendet 
          werden. Laubbäume, die keinen Obstertrag boten und Tannen waren 
          obsolet. Es wurde festgelegt, dass ein Drittel dem Anbau vorbehalten 
          sei, ein Drittel der Erholung – dass heißt, beispielsweise 
          einem Rasen zugestanden wird und ein weiteres Drittel bebauter Fläche, 
          sprich, einer Laube und einem Geräteschuppen vorbehalten wird. 
          In den Zeiten der Not, nach den Kriegen und während der Inflation 
          wurde auf den Rasen zugunsten des Anbaus oft völlig verzichtet. 
          Die Lauben waren schlicht und klein und beherbergten oft nicht viel 
          mehr, als einen Tisch, zwei, drei Stühle, eine Ecke fürs Gartenwerkzeug, 
          ein kleines abseitiges Plumpsklo. Bei den echten Laubenpiepern war das 
          Betreten der Laube, außer zu den Vesperzeiten oder während 
          eines Regengusses gar verpönt. Man war draußen, man arbeitete 
          im Garten, für Müßiggang gab es keine Zeit und kein 
          Verständnis. Die Wende führte zu einem Paradigmenwechsel. 
          In der reichen Bundesrepublik war der Anbau von Lebensmitteln für 
          viele Schrebergärtner zum reinen Hobby geworden. Die Lebensmittel 
          konnten beim Discounter, rechnete man allen Aufwand vom Umgraben bis 
          zur Ernte mit ein, deutlich günstiger erworben werden. Wie oft 
          hieß es nach der Erntesaison: „Brauchste paar Zucchinis, 
          brauchste 'n Kürbis, wie sieht's aus mit paar Erdbeeren für 
          dich?“ „Nee, danke, du, aber ich habe selbst genug und weiß 
          nicht wohin damit!“ Nun stand die Erholung im Vordergrund. Die 
          Lauben wichen wahren Bungalow-Palästen, nicht selten in Stein aufgeführt, 
          Küchen mit fließend Wasser inbegriffen, Wohnvollausstattung 
          und eingebaute Klos mit Wasserspülung. Die Rasen und Hecken wurden 
          zu Blickfängern und Augenweiden gestaltet, Ziergewächse und 
          Blumen hielten Einzug. Doch noch immer wachte das BKleingG über 
          Form und Aufteilung des Gartens in gewohnt strenger Manier. Immerhin 
          wird der kleingärtnerische Ansatz in seiner ursprünglichen 
          Idee bis heute von den häufig kommunalen Bodeneigentümern 
          subventioniert oder zumindest sehr günstig verpachtet. Verliert 
          die Kleingartenanlage ihren Status als solche, wenn beispielsweise ein 
          gewisser Prozentsatz an Gärten nicht mehr, nur noch oberflächlich 
          oder nicht den Satzungen entsprechend bewirtschaftet wird, dann kann 
          die Umwandlung in ein Naherholungsgebiet erfolgen, was eine Steigerung 
          der Pachtbeiträge um das acht- bis zehnfache zur Folge hat. Sämtliche 
          Kleingartenbestimmungen entfallen dann und auch der Bepflanzungsrahmen 
          erweitert sich gewaltig.
          Einige ostdeutsche Kleingartenvereine sind nun bereits ihren Kolonisten 
          gegenüber etwas moderater geworden, denn sie stehen unter den Druck 
          sinkender Mitgliederzahlen. Eine Gratwanderung beginnt: Liegt doch im 
          Interesse des Verpächters grundsätzlich ein höherer Pachtertrag 
          pro Quadratmeter Scholle, weswegen die Kontrollen seitens der Verpächter 
          in dem Maße zunehmen und sich verschärfen, in dem eine Konversion 
          des Spartenlandes in ein ausgewiesenes Naherholungsgebiet in nächster 
          Zukunft als zunehmend aussichtsreich erscheint. Die rückläufige 
          Laubenpieperzahl aber ist dem grassierenden Desinteresse geschuldet, 
          welches die nachwachsende Generation dem Wühlen in der Erde und 
          dem Anbau von Gemüse entgegenbringt. Kann man schon verwaiste Parzellen 
          im Gegensatz zu den Zeiten der untergegangenen DDR, wo es lange Wartezeiten 
          wie bei Automobilen und legendäre Ablösesummen gab, kaum mehr 
          neu besetzen, so würde dies bei einer Vervielfachung der Pachtsumme 
          erst recht zu einem Gartensterben sonder gleichen führen. Denn 
          das konjunkturelle Zwischenhoch der Bundesrepublik können wohl 
          nur Narren für stabil halten. Und wer steckt schon viel Geld in 
          einen Pachtgarten, wenn er die paar Kröten zum täglichen Überleben 
          zusammenhalten muss? Ob aber eine solche Entwicklung im generellen Verpächtersinne 
          stünde, sei dahin gestellt. So scheint man sich auf gewisse Zugeständnisse 
          geeinigt zu haben, die bei einigen Kolonien zu moderateren Auslegungen 
          des BKleingG führte. Auch darin dürfte einer der Gründe 
          zu suchen sein, warum Ruth Schröders prächtige Blautanne bis 
          auf den heutigen Tag überleben durfte. Doch nun ist ihr Schicksal 
          mit Sicherheit beschlossene Sache. Der anstehende Pächterwechsel 
          macht die Durchsetzung der gesetzlichen Auflagen möglich. 
          Uns aber ist der unzeitige Tod des herrlichen Gewächses Anlass 
          nachzufragen, welchen Zweck das Fällen des schönen Baumes 
          erfüllt, abgesehen von dem völlig blödsinnigen und stupiden 
          Grund, einem hohl gewordenen Gesetz Geltung zu verschaffen. Es gibt 
          im Deutschen die Redewendung, man solle doch die Kirche im Dorfe lassen. 
          Man möchte damit anmahnen, eine Sache mit Augenmaß und Behutsamkeit 
          zu betreiben und nicht zu überziehen. Auf die Gartensparte in Kirchmöser 
          abgewandelt, lautet des Landboten Plädoyer: Lasst die Blautanne 
          im Garten! Das Attribut „deutsch“ muss doch nicht ums Verrecken 
          für sinnentleerten Starrsinn geistiger Gartenzwerge stehen. 
        
        Fotos: Hübner