Wer ist Ahrens?
                
                   J.-F. S. Lemarcou
                  „Ahrensfelde einsteigen! 
                  Ahrensfelde zuuurückbleiben, bittä!“ Ein aufsurrendes 
                  Geräusch, und die S-Bahn setzt sich nach Osten in Bewegung. 
                  Ihre Endstation heißt Ahrensfelde, ein vormals verlorener 
                  Weiler im äußersten Nordosten von Berlin, dort wo 
                  die Bundesstraße 158 die Stadt verläßt. Wie 
                  oft, Tag für Tag, wird der Name jenes Ahrens durch den 
                  Berliner Äther gerufen… Wer war dieser Mensch? 
                  Ich beobachte die Leute, die alle mit mir in derselben S-Bahn 
                  sitzen und in Richtung Ahrensfelde fahren. Verschlossene Gesichtsausdrücke. 
                  Mit den Gedanken sind sie schon zu Hause, rekapitulieren, was 
                  alles sie heute noch zu tun haben, ärgern sich noch über 
                  die gemeine Kollegin, ärgern sich über den Typen zu 
                  ihrer Rechten, der ihnen mit seiner hingefläzten Sitzhaltung 
                  das letzte bißchen Intimsphäre nimmt, ärgern 
                  sich über die junge Frau, die gerade unverschämter 
                  Weise den Sitzplatz zu beanspruchen gedenkt, den bis eben noch 
                  die eigene Handtasche innehatte. Sie schleppen an ihren Beuteln 
                  und Einkaufspakten, sie hantieren mit ihren Fahrrädern 
                  und hoffen, daß sie nur einmal von den obdachlosen Zeitungsverkäufern 
                  verschont werden. Aber denkt einer von ihnen an den Herrn Ahrens? 
                  
                  Niemand. Nicht einer. Einige haben das Glück und reisen 
                  zu Zweien oder gar zu Mehreren. Sie unterhalten sich, lachen. 
                  Aber über Herrn Ahrens reden sie nicht. Oder?
                  Doch, dahinten, die aufgedonnerte Pippi mit dem weißen, 
                  abgesteppten Anorak, den wasserstoffblondierten Haaren und dem 
                  rosa Handtäschchen. Nachdem sie einen Blick auf das Display 
                  des obligatorischen Handys getan hat, stöhnt sie zu ihrer 
                  Freundin: „Oh Mann eij, ick muß heut noch ßßu 
                  meinem Freund nach Aaaahnsfelde, eij. Der Typ hat se echt nich 
                  alle.“ Wer? Herr Ahrens? Nein, nein, gewiß nicht. 
                  Würden Sie das kleine Dutzendfräulein nach dem Herrn 
                  fragen, dessen Namen sie soeben in ihrem stark mit Lippenstift 
                  behandelten Schmollmündchen führte, so bekämen 
                  Sie mit einhundertprozentiger Sicherheit folgende Auskunft: 
                  „Waa? Wat will der’n von mia. Hat der se nich mehr 
                  alle? Jetzt wirste schon uff de Straße anjelabert. Krass 
                  eij! Der Typ nimmt doch Drogen, Alter, eij…“ Und 
                  so weiter.
                  Darum lassen wir sie in Ruhe ihr kleines, sinnfreies rosarotgeschminktes 
                  Dutzendleben weiterführen und hängen unseren eigenen 
                  Überlegungen nach.
                  Herr Ahrens, also. Ein ganzes Dorf ist nach dem Manne benannt 
                  worden – nicht nur ein Platz oder eine Straße. Ein 
                  Zar gab dem weltberühmten Alexanderplatz seinen Namen. 
                  Preußische Staatsreformer wurden wie im Falle der Hardenbergstraße, 
                  des Stein- und Savignyplatzes geehrt. An verdiente Militärs 
                  wird man in der Stauffenbergstraße, auf der Moltke-Brücke 
                  oder in der Scharnhorststraße erinnert. Mit was also hat 
                  sich Herr Ahrens hervorgetan, daß sein Name Tausende Male 
                  täglich über Berliner Lippen geht? War er ein Überarchitekt, 
                  ein genialer Mediziner, der Chefsekretär Dschingis-Chans 
                  oder der erste Kosmonaut der Mark Brandenburg? 
                  Nichts von alledem. Herr Ahrens hat ein bißchen Boden 
                  gekauft oder gepachtet. Wer weiß das noch! Es ist viele 
                  Jahrhunderte her. Das war alles. Ja, so schlicht und ergreifend, 
                  so entsetzlich trivial kann uns das chaotische Schicksal seine 
                  Macht beweisen.
                  Es verhält sich beinahe so wie mit der zweifelhaften Shooting-Star-Karriere 
                  jenes kleinen, völlig unbedeutenden Hausgötzen eines 
                  in den staubsturmgeplagten Wüsten Arabiens hausenden, zerlumpten 
                  Beduinenvolkes, der zum Gott der drei weltbeherrschenden monotheistischen 
                  Religionen wurde. 
                  Es ist eine Kette von Zufällen – nichts weiter. Herr 
                  Ahrens – oder wie uns Reinhard E. Fischer in seinem Buche 
                  „Die Ortsnamen der Länder Brandenburg und Berlin, 
                  Alter – Herkunft – Bedeutung erklärt: ein deutscher 
                  Locator mit dem Namen Arn, Arnd oder Arend hatte einst – 
                  wahrscheinlich lange vor 1375 ein Stück Land zur Besiedlung 
                  erworben, das von den Leuten fortan mit seinem Namen verbunden 
                  wurde. Was er für ein Mensch war, wissen wir nicht. Möglicherweise 
                  ein tatkräftiger, fleißiger, eine Anführernatur, 
                  ein Pionier. Dennoch, sein Charakter ist uns mit keiner Silbe 
                  überliefert. Männer wir ihn gab es Tausende in der 
                  Mark. Nur sein Land hatte eben das Glück, später zur 
                  Randzone einer Stadt zu gehören, die – durch unendlich 
                  viele weitere Zufälle befördert – einst zu einer 
                  der wichtigsten Städte der Welt zählen sollte. Von 
                  diesem Sog mitgerissen, mitgespült, blieb auch der Name 
                  dieses Mannes Arn oder Arnd oder Arend in vieler Munde.
                  Es ist nicht wichtig. Nur eine kleine philosophische Gedankenspielerei, 
                  während draußen die Spree und das Häusermeer 
                  zurückbleiben. Es mag dem unbekannten Manne Arn oder Arnd 
                  oder Arend zum Troste gereichen, wenn es ihn denn überhaupt 
                  noch interessiert, daß man für gewöhnlich genausowenig 
                  an den König Friedrich den I. von Preußen denkt, 
                  wenn man die weltberühmte Friedrichstraße hinabläuft. 
                  Und das obwohl dessen biographischer Hintergrund weit besser 
                  erschlossen ist. Was soll’s also?
                  Nur die Idee erheitert, eine Fee wäre Herrn Arn, Arnd oder 
                  Arend seinerzeit auf den Feldern seiner Flur begegnet und hätte 
                  ihm geweissagt: „Lieber Arn, Arnd oder Arend, so unwichtig 
                  und bedeutungslos du auch heute sein magst – weil deine 
                  Äcker und Felder hier und nirgendwo anders liegen, soll 
                  dein Name in achthundert Jahren noch Tag für Tag von Zehntausenden 
                  Menschen ausgesprochen werden!“ Sprach’s und verschwand. 
                  Herr Arn, Arnd oder Arend fiel vor Staunen platt der Länge 
                  nach hin – plautz – da liegt er. Achthundert Jahre 
                  – welch ein Äon, er weiß man gerade, wieviel 
                  drei Dutzend sind. Und dann noch Zehntausende Menschen, jeden 
                  Tag… So viele Leute kann er sich nicht vorstellen. Wenn 
                  das ganze Land, das er kennt, so viele Seelen trägt, so 
                  ist doch unwahrscheinlich, daß alle – Tag für 
                  Tag – auch nur den Namen ihrer geheiligten Majestät 
                  des Kaisers nennen. Und dann sollte ihm eine so ungeheure Ehre 
                  zukommen, wie sie sonst nur Gott erfährt? 
                  Nun, ich glaube, die Gute Fee hätte gewußt, was sie 
                  anrichten würde und zog es daher vor, sich nicht dem Herrn 
                  Arn, Arnd oder Arend zu offenbaren. So blieb es ihm erspart, 
                  völlig benommen in den Dorfkrug zu wanken, sich schweigend 
                  am Met zu besaufen oder lamentierend seine hart erarbeitete 
                  Reputation zu verlieren. Er konnte sein Leben ruhig weiterführen, 
                  bis es an sein gottgewolltes Ende kam. Die Jahre, Jahrzehnte, 
                  Jahrhunderte vergingen. Herr Arn, Arnd oder Arends Name blieb 
                  lebendig bei den Bewohnern seines und der Nachbardörfer 
                  und einiger anderer Herren, die in Bezug auf Landvermessungen 
                  oder Rechtsgeschäfte mit dem Nest irgendwie zutun bekamen. 
                  Man nannte den Weiler nämlich Ahrensfelde, was die Gemarkung 
                  ebenjenes Arn, Arnd oder Arend ist. 
                  Dann fügte es der Zufall, daß ebenjene Flur zu einer 
                  Endstation der Berliner S-Bahn wurde. Seither schallt es auf 
                  fünfundzwanzig Stationen entlang der Linie S7, jedesmal, 
                  wenn ein Zug nach dorthin bereit steht, 4273 mal am Tag: „Ahrensfelde 
                  einsteigen, bitte! Ahrensfelde zuuuurückbleiben!“ 
                  
                  Wir bleiben zurück!