Baaks

zurück zur Stammseite "BÜCHER"


Baudolino
von Herrn Umberto Eco

Don M. Barbagrigia
Er ist ein unermüdlicher Erzähler, dieser piemontesische Professor der Semiotik an der Bologneser Universität. Immerfort drängt es ihn, den Sprachwissenschaftler und Historiker, von seinem Wissen abzugeben, mitzuteilen, wohl wissend, daß die Mehrheit der Bevölkerung wenig an der Historie der europäischen Vergangenheit interessiert ist.
Diesem Umstand trotzte er mit seinem 1980 in Italien erschienen Buch „Der Name der Rose“ überraschend einen Welterfolg ab, der die unmittelbar darauf einsetzende und stantepede ausufernde Mittelalterhysterie in sein Kielwasser zog.
Viel verspinnerter Mumpitz wurde da geboten, die kitschigen und realitätsfernen Colorschinken Hollywoods der Fünfziger und Sechziger grüßten nachgerade von jedem bedruckten Blatte.
Nicht so bei Eco. Er scheint über einen enormen Wissensfundus zu gebieten, und über ein großes schriftstellerisches Talent obendrein.
Dennoch machen wir seinen Werken wenig Hoffnung: sie sind einfach zu gut! Sie sind nur lesbar für ein Publikum, dessen IQ den eines Pausenbrotes übersteigt und die über ein akzeptables Maß an Vorbildung verfügen. Die Schicht dieser Zielgruppe dünnt sich jeden Tag mehr aus. Wir mutmaßen, daß Werke wie „Das Foucault’sche Pendel“ und der „Baudolino“ nurmehr vom Namen des Autors, respektive vom Erfolg seines „Namens der Rose“ zehren, gleichwohl sie weitaus tiefgründiger, bedeutungsvoller und fordernder sind.
Baudolino, oder ins Deutsche übersetzt „Balduinchen“, ist ein Bauernjunge aus just der Stadt, aus der auch Herr Eco stammt – aus Alessandria im Piemont. Er ist ein blitzgescheiter und sprachbegabter Bauernjunge des zwölften Jahrhunderts, den ein Zufall aus seiner nebligen Heimat in den Dunstkreis der Machtzentrale des Heiligen Römischen Reiches befördert: an den Hof Friedrichs I. Barbarossas. Baudolino teilt die Ära des Staufers, wird zu seinem Adoptivsohn, wird zu einem abenteuerlichen Reisenden des Hochmittelalters, zu einem Erzähler, zu einem verschmitzten Lügenbold, der dennoch der Wahrheit immer ein Stück näher ist, als seine Umgebung. So schafft er es auf wundersame Weise, daß sich seine Lügenmärchen Stück um Stück materialisieren, Wirklichkeit werden, zurückwirken, er gleichsam an die Gespinste seiner Phantasien zu glauben beginnt.
Das Schelmische an dem Buch begegnet uns im Schelm selbst, der, völlig unprätentiös und jeglicher Macht und Gewalt abhold, doch die Geschicke des Reiches maßgeblich beeinflußt.
Nie zuvor haben wir aufgelockerteren Geschichtsunterricht genossen, der dennoch nichts an Fakten und Hintergründen der Taten Barbarossas vermissen ließ. Herrn Ecos Kunstgriff besteht darin, daß er die Ideen vieler dem Hirne eines Einzigen – seines Baudolino – entspringen läßt. Sie gleichsam fokussierend, läßt er uns erkennen, daß die Menschen des angeblich so finsteren „Mittelalters“ keineswegs tumbe Tröpfe waren, sondern hellwache Leute, deren Einfallsreichtum und Überlebenswillen, deren enormem Blutzoll wir letztendlich unser heutiges Leben verdanken. Und das in jeglicher Hinsicht!
Bei der Lektüre mußten wir so manches Mal an den berühmten Schmetterling denken, dessen Flügelschlag auf der anderen Seite des Ozeans einen Wirbelsturm auslöst. Die Banalität der Macht, die allzuoft hoffärtig in des Kaisers neuen Kleidern einherstolziert, wird uns vorgeführt, wie in einer Burleske der Comedia del’Arte.
Parallel dazu entführt uns Herr Eco mit sachter Hand in die Geistes- und Vorstellungswelt des Mittelalters, die von anderen Dimensionen geprägt war, als wir es uns heute auch nur ansatzweise vorstellen könnten. Das Traumreiseziel des europäischen Mittelalters aber war der Ferne Osten, der dem Vernehmen nach ein sagenhaftes Riesenreich unter der Rigide eines noch sagenhafteren Priesterkönigs namens Johannes beherbergen sollte. Eine Reise von Rom nach Paris dauerte schon mehrere Wochen und war im Allgemeinen mit großen Gefahren und Strapazen verbunden. Das ging nicht vom Leonardo-da-Vinci-Flughafen bis Orly in knapp anderthalb Stunden; Fahrt von Orly zum Eiffelturm doppelt so lang. Von den Königreichen der Khmer, den wahren Verhältnissen Indiens oder dem noch ferneren Siam ahnte man nichts. Es war schon viel in der Zeit der Kreuzzüge, daß man überhaupt den Namen Indien kannte. Das Aussehen der Welt, wie es in einigen Köpfen wie dem des byzantinischen Theologen Kosmas Indikopleustes herumspukte, war schlicht kurios. Es bezog sich in kruder Logik auf den noch kruderen Heilsplan, wie er aus der Bibel herausgelesen wurde. Eine Welt jenseits der Evangelien war schlicht nicht denkbar.
Nun hatten wir einmal das Vergnügen, die berühmte Weltkarte von Hereford an der walisischen Grenze in Augenschein nehmen zu können, die sich redlich Mühe gab, das damals bekannte Wissen um die Geographie zu schildern. Doch dieses Unikum stand nur den auserlesensten Köpfen jener Zeit ansichtsweise zu Diensten. Nach ihr zu reisen, wäre schon ein gewagtes Unterfangen gewesen, das Modell des Indikopleustes aber einer Reiseplanung zugrunde zu legen, das war schierer Irrsinn.
Dennoch versuchten es immer wieder Leute, wie unter anderem der berühmte Marco Polo aus Venedig. Das Ziel dieser Unternehmungen war meist merkantiler Natur. Gefördert aber wurden sie oft durch weltliche oder geistliche Potentaten, die hofften, entfernte Herrscher vor ihren persönlichen Karren gegen ihre okzidentale Konkurrenz einspannen zu können. Einer dieser Phantome war der legendäre Priesterkönig Johannes, der im fernen Osten eben über ein perfektes und unermeßlich großes - natürlich christliches – Reich herrschen sollte und zum Objekt der gleichzeitigen Begierde sowohl des Papstes, des byzantinischen Basileus als auch des abendländischen Kaisers wurde. Selbstverständlich ging man davon aus, daß die dortigen Verhältnisse denen des bekannten Umfelds glichen. Ergänzt wurde das imaginäre Reich durch eine Anzahl von Fabelwesen, wie Einfüßler, Kopflose, Hundsköpfige, Giganten, Vogel Roch, Greifen und Chimären und weiß der Teufel was noch für abartige Ausgeburten menschlicher Albträume.
Lachen sie nicht! Sehen Sie sich statt dessen die alten, mittlerweile in den Kultstatus erhobenen Folgen von Raumschiff Enterprise an! Das ist eine 1:1-Transponation der mittelalterlichen Erzählungen. Nichts anderes als dieses Konzept wurde schon vierzig Generationen vor unserer Zeit in Szene gesetzt.
Da sich bei unserem Helden Realität und Fiktion nach den damals durchaus üblichen Maßstäben vermischen, spielt es keine prägnante Rolle, daß Baudolino letztendlich einen Vorposten dieses Sagenlandes erreicht und all jenen Fabelwesen auch wirklich begegnet, die er aus seinen Studienjahren an der Pariser Hohen Schule kennt. Die spätmittelalterlichen Lügenbarone und „Reise“schriftsteller Herzog Ernst und John de Mandeville lassen grüßen.
Des Autors nächster Streich ist nahezu grandios: Er verteilt die verschiedenen frühchristlichen Sektenlehrmeinungen auf ebenjene Fabelvölker und zeigt, daß selbst in weitester Ferne die Probleme, die Menschen untereinander haben, ewig dieselben sind. Und ähnlich wie im „Julian Apostata“ des Dimitrij Mereschkowski führt er uns anschaulich vor Augen, wie erbittert die „Christen“ um ein winziges Jota eines einzigen Begriffes zu streiten in der Lage waren.
Wir erfahren im weiteren Verlauf und im Zuge der Eroberung Konstantinopels durch die Kreuzfahrer von den Greueln, die lateinische Christen an ihren griechischen Glaubensbrüdern verübten, wo sie doch geschworen hatten, den sauren Mauren das Heilige Grab zu entreißen. Wir erfahren von der zweifelhaften Herkunft vieler Reliquien, die dem abendländischen Klerus so unendlich viel Geld in die Kassen spülten. Wir verstehen, warum es beispielsweise in Europa soviele Splitter vom wahren Kreuz Christi gibt, daß man damit einen ganzen Wald darstellen könnte; warum soviele Köpfe des Täufers Johannes kursieren, daß selbst die griechische Hydra vor Neid erbleichen würde. Und letztendlich erzählt uns Herr Eco in einer überraschenden Wendung seine Version von den wahren Hintergründen des ominösen Todes Kaiser Friedrich Barbarossas in den Fluten des kleinasiatischen Flusses Saleph.
All das liest sich spannend, wenngleich mitunter etwas zähflüssig, besonders, wenn sich Herr Eco endloser Aufzählungen bedient, die aber im Mittelalter durchaus nicht unüblich gewesen zu sein scheinen. Es ist ein unterhaltsamer Streifzug zu den Wurzeln des „christlichen“ Abendlandes, der dem Interessierten einigen Genuß verspricht.

B 2. Volumen
© B.St.Ff.Esq., Pr.B.&Co,2005