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Mit
dem Drahtesel durchs All
Michael L. Hübner. Havelsee. „Hey, kleiner Fratz auf dem Kinderrad! Gekonnt hältst du die Balance. Hey, kleiner Fratz auf dem Kinderrad, du führst in der Tour d’elegance!“ So besang der große Hermann van Veen sein damals kleines Töchterlein, wie sie mit ihrem roten Drahteselchen über die Deiche ihrer holländischen Heimat flitzte. Doch schrieb er dieses bezaubernde Lied nicht für alle kleine Fratzkens, die ähnlich anmutig durch die Landschaft strampeln? Natürlich tat er das! Hermann ist niemand, der ausschließlich sich und die Seinen im Blick hat, wenn er seine herzwärmende Kunst zum Ausdruck bringt. Diesmal ist es ein lindgrünes 16“-Puky, welches vom fünfeinhalbjährigen Wolfi auf dem Weg geritten wird, der zwischen den frühlingsgrünen Feldern und kühlen Wäldchen nach dem Haveldorfe Bahnitz führt. Es sind nur zwei schmale Fahrspuren in Beton gegossen, die den Weg zwischen Bahnitz und der Fährstelle Kützkow ganzjährig passierbar halten. Ein Balanceakt für einen Pedalritter, der erst seit wenigen Tagen den Bogen raus hat und der ab sofort keinen Gedanken mehr an das noch Anfang des Monats heiß begehrte Laufrad verschwendet.
Wer wollte sich auch noch mühsam mit einer – wenn auch gummibereiften – Draisine abquälen, wie seinerzeit dessen Erfinder, der Freiherr von Drais, wenn die kreisenden Pedale eine viel höhere Geschwindigkeit erlauben und einem der Fahrtwind so herrlich übers Gesichtchen streicht! Den kleinen Täve Schur treibt noch ein anderes Hobby um: Die Astronomie. Zum Erstaunen seiner Umwelt parliert er über Schwarze Löcher und deren Ereignishorizonte, Supernovae, die entstehen, wenn übergroße Sterne unter dem Eindruck ihrer eigenen Schwerkraft kollabieren, über weiße Zwerge und die Farben der Sonne, über Galaxien und er kennt alle Planeten des heimatlichen Sonnensystems mit Namen, Größe und Anschrift.
Sich jedoch die wahren Dimensionen zu versinnbildlichen, welche im Kosmos herrschen, das fällt selbst Erwachsenen schwer. Da folgt man doch lieber den geistlosen Utopien des Raumschiffs Enterprise, welches lediglich zutiefst irdische Probleme und zwischenmenschliche Dynamiken in die Tiefe des Alls exportiert. Da findet auf den Mattscheiben in den Wohnzimmern ein erbarmungsloses Galaxien-hopping statt – von einem Ende der Milchstraße zum anderen – gar kein Problem! Ein paar Tage, dann sind wir das durch. Das ist nichts anderes als eine Ozeanüberquerung auf einem Luxusliner. Es werden also gewohnte Dimensionen und Erfahrungen in die Weiten des Alls transponiert. Das ist natürlich völlig hirnrissig. Verglichen mit der immensen Weite des Raums sind die darin befindlichen Körper und schwarzen Löcher verschwindend klein – sie mögen so groß sein wie der Stern Stephenson 2-18 oder VY Canis Majoris oder Schwarze Löcher wie Phoenix A oder TON 618. Warum dauert es wohl Jahrzehnte, bis Raumsonden von der Erde aus die fernsten Winkel des Solarsystems erreichen? ... und das bei einem Affenzahn, dessen Geschwindigkeit alles übertrifft, was auf Erden denkbar ist. Selbst Pistolenkugeln nähmen sich dagegen aus, wie gaaaanz laaaangsaaame Weinbergschnecken. Trotzdem - Jahrzehnte! Die Gestalter der Tafeln am Wegesrand nach Bahnitz haben sich Gedanken gemacht, wie man diese Entfernungen im buchstäblichen Sinne erfahrbar machen kann. Zugleich teilen sie für kleine Velozipedisten die ansonsten weite Strecke in überschaubare Etappen ein und wecken Neugier auf die nächste Erklärung. Das Zentrum dieses Miniatur-Sonnensystems ist Kützkow. Merkur, Venus und Mars folgen in relativ kurzen Abständen von wenigen hundert Metern. Aber dann wird es eine ganze Weile ziemlich ruhig. Erst kurz vor Bahnitz taucht die „Jupiter“-Tafel auf. Saturn befindet sich bereits weit hinter dem Dorfe. Uranus schwebt schon bei Jerchel herum – das möchtest du nicht zu Fuß laufen – aber dann: Neptun. Der nunmehr äußerste bekannte Planet unseres Sonnensystems wäre in der Höhe von Milow angesiedelt. Das sind locker mal 10 km.
Dabei mache man sich ganz klar, dass jegliches Raumschiff im Maßstab betrachtet bestenfalls unter dem Rasterelektronenmikroskop zu sehen wäre. Dieses Nichts - und diese Weiten. "Herrgott, Dein Meer ist so groß und mein Schiffchen so klein ..." Kinders, lasst das Gejammer! Über Ozeane und Schiffe kann man bei diesen Dimensionen nur noch lächeln. Nur, um das klarzustellen, der Ereignishorizont von Phoenix A läge bei einer Singularität in Kützkow etwa auf dem Umfang Visby, Brest-Litowsk, Bozen, Dünkirchen. Das ist unvorstellbar gewaltig. Wenn man sich dann noch vergegenwärtigt, dass die Erde, auf die Größe eines Schwarzen Lochs geschrumpft, die Größe einer Erbse hätte, unsere Sonnes es wenigstens noch auf einen Durchmesser von drei Kilometern brächte, dann wird klar, von welchen unfassbaren Ausmaßen die Rede ist. Wessen Verstand da nicht kapituliert, der ist nicht von dieser Welt Auch, wenn sich das alles immer noch unserem rationalen und auf irdische Verhältnisse adaptierten Erfassungshorizont entzieht und von dessen Atmosphäre abprallt – wie sehr erst von der eines kleinen Jungen – die Aufstellung der Tafeln ist nicht nur deshalb eine prima Idee. Wir bedanken uns bei den Machern und gratulieren zu einem dem heimischen Tourismus und der Neugier unseres Wolfis durchaus förderlichen Einfall. Um abschließend die Frage zu beantworten, wo die Tafel für Alpha Centauri, dem sonnennächsten Nachbarstern in vier Lichtjahren oder ca. 40 Billionen Kilometer Entfernung, stünde: Zuimindest am Äquator gleich nebenan. ... ein paar Meter nur. Kann man sogar hinüberspucken! Vorrausgesetzt, man folgt zunächst der Linie am Äquator einmal um den Heimatplaneten Erde komplett herum - denn maßstäbliche 44.000 km sollte man schon einplanen. ;-) * Lied von "Die Doraus & Die Marinas", 1981 |
© B.St.Ff.Esq., Pr.B.&Co,2012
27.04.2025