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Kattes Schulzeit


für Frau Dr. Maria von Katte

zum 292. Todestag des Premierleutnants Hans Herrmann Katte


Michael L. Hübner. Havelsee. Dieser 6. November des Jahres 1730 mag ein kalter Tag gewesen sein. Der Klimawandel lag noch in ferner Zukunft. Der vorletzte Monat des Jahres stimmte die Menschen zumeist mit eisigem Nebel auf den bevorstehenden Winter und eine dunkle Jahreszeit ein.


Die Historikerin Frau Maria von Katte

Für einen jungen Mann hingegen sollte an diesem Tag eine Dunkelheit anbrechen, die nie wieder einem Licht weichen würde, so fest er sich in seiner Todesangst an diese Hoffnung auch klammern mochte.

Was mag in dem 26jährigen Premierleutnant Hans Hermann von Katte vorgegangen sein, als er diese ganze grauenhafte Szenerie vor sich erblickte, die um seinetwillen errichtet worden war? Angetretene Soldaten, die verhindern sollten, dass der junge Mensch einen Fluchtversuch wagt. Das nervtötende Trommeln, der Priester, dessen Einlassungen lediglich dazu geeignet waren den Burschen in seiner Not und Verwirrtheit noch kopfscheuer zu machen. Dann das Gesicht des Freundes, um dessentwillen er nun hier sein Leben verlieren sollte: das Gesicht des Kronprinzen von Preußen.

Diesem, noch soeben selbst vom unzeitigen Tode durch den eigenen Vater bedroht, war nach der Intervention des Kaisers in Wien nun ein Schicksal zugemessen, welches nur oberflächlich leichter zu ertragen war, als Kattes. Dem Überlebenden blieb das lebenslange Trauma, der Geist des Verstorbenen, an dessen Tod er sich zumindest eine nicht unerhebliche Teilschuld zu geben gezwungen war.

Dass er später den Vater des unglücklichen Freundes zum Generalfeldmarschall avancierte und in den Grafenstand erhob – was waren das mehr als hilflose Bemühungen eine eigene Qual abzumildern, deren Ursache auch für den mächtigsten Mann im Staate nicht mehr zu revidieren war.

Beide jungen, wahrscheinlich für die damalige äußerst raue und gewalttätige Epoche zu zart besaiteten Männer hatten einen aberwitzigen Plan ausgeheckt – dessen staatsgefährdende Konsequenzen über ihren jugendlichen Horizont weit hinausgingen. Zumindest der Kronprinz hatte nur sein eigenes Leiden vor Augen, als er sich zur Flucht vor dem Vater entschloss. Der peinigte seinen „effiminierten“ Erben, wo es nur ging. Gab es eine väterliche Liebe für den Sohn? Selbst beim großen Jochen Klepper werden wir nicht fündig. Vielleicht gab es sie – aber dann drückte sie sich in Dimensionen des Miteinanders aus, die uns Heutigen weitestgehend verschlossen sind.

Der Alte stand noch unter einem anderen Druck: Preußen war noch keineswegs die europäische Großmacht, zu der sein Sohn es einst unter Hekatomben von Blut und Tränen schmieden sollte. Die Vorstellung, dass dieser Querflötist und französelnde Schöngeist jene enorme Leistung einst vollbringen würde, entsprach in den 1720ern eher dem Bildnis vom Kamel und dem Nadelöhr. Der Alte war verzweifelt: Die Thronfolge war nicht so einfach zu kippen – auch für ihn nicht. Sein Brandenburg-Preußen war ein fragiles und zerbrechliches Gebilde. Fehrbellin war erst 38 Jahre her als er die Macht übernahm. Frankreich war mächtig und lag ewig auf der Lauer und überhaupt war das nicht das Zeitalter, welches die Diplomatie zur Königin seines Pantheons erhob. Der Raub des Elsass und Lothringens durch Richelieu und des zwölften Karls militärische Expeditionen durch Osteuropa mochten jeden kleinen deutschen Territorialfürsten daran erinnern, wie fragil seine Herrschaft im Konzert der europäischen Großmächte war.

Unter diesen Gesichtspunkten war der Wunsch des Kronprinzen von Preußen, sich der Prügel und ständigen Demütigungen durch den eigenen Vater durch Flucht zu entziehen, kein einfaches Weglaufen von zuhause. Es war eine Desertation, die den Tatbestand des Hochverrats erfüllte, auch wenn sich dieser Kronprinz niemals freiwillig eidlich an den Vater, dessen Staat und dessen Armee gebunden hatte. Er hatte einfach das Pech seiner Geburt zu erleiden. Wäre er bei seinem Onkel König in England angekommen, wäre der „Sergeant Roy“ in ganz Europa bis auf die Knochen blamiert und angreifbar, seine Herrschaft ein Spott, seine Autorität zuschanden gewesen.

Deswegen stand dem Alten der Schaum vor dem Mund. Nicht nur, weil er ein geborener Choleriker war, wie ihm missgünstige Historiker gern behaupten. Trotz all seiner Fehler und Macken: Er war einer der verantwortungsvollsten Fürsten, die je ein Land regierten. Er dachte wirklich an die Menschen, deren Schicksal von seiner Staatsführung abhing. Er rüstete auf wie vom Teufel getrieben – musste jedoch kein preußisches Blut auf den Schlachtfeldern Europas opfern, von Stralsund mal abgesehen. Das blieb seinem Sohne vorbehalten. Seinem Sohne, der im Jahre 1730 nur an eines dachte – an Flucht.

Armer Katte! Ein fehlgeleiteter Brief erwies sich als der grausame Zufall, der den jungen Burschen ins Verderben stürzen sollte.

Doch wog seine Schuld nicht so schwer, dass ihn das Militärgericht zu Köpenick zum Tode verurteilt hätte. Lebenslage Festungshaft, wobei Festung nicht Zuchthaus bedeutete, sondern durchaus nicht ehrenrührig war.

Der erste Diener des Staates jedoch schleuderte seinen Dienstkittel in die Ecke und war von einer Sekunde auf die andere der, welcher er unter seinem Dienstrock immer war: Der König von Preußen. Er kassierte das Urteil und erkannte auf Tod, mochte der alte Generalfeldmarschall Wartensleben, Großvater des Delinquenten, mochte Kattes Vater Hans Heinrich noch so betteln, Katte musste sterben. Für den Alten war es besser, wenn Katte aus der Welt käme, denn seine Justiz.

Das alles ist hinlänglich bekannt.


Die kleine Dorfkriche vom Wust während des Vortrags

Eine Tochter des Hauses Katte, die 81 jährige Historikerin Dr. Maria von Katte, brachte am Sonntag, dem 05. November 2022 vor der gut gefüllten kleinen Dorfkirche zu Wust (Elbe), quasi über dem Sarge ihres unglücklichen Verwandten stehend, einen Vortrag über die Schulzeit Hans Hermanns zu Gehör, welchen ihr Vater einst akribisch recherchiert und in einem hervorragenden Deutsch ausgearbeitet hatte.

Das Referat befasste sich mit dem Zeitraum zwischen 1717 und 1721, in welchem Katte das Hallesche Pädagogium des August Hermann Francke als Scholar besucht hatte. Als Halbwaise, dessen Vater geographisch fern und emotional mutmaßlich noch ferner war, kam er als dreizehnjähriger Junge nach Halle in eine Lehranstalt, die zaghaft neue Wege in der Kindererziehung zu beschreiten trachtete. Pestalozzi, Fröbel oder Rousseau waren jedoch noch Lichtjahre entfernt. Das Wort „Entwicklungspsychologie“ hätte man wohl Merlin dem Zauberer zugeordnet, so fremdsinnig mochte es den Zeitgenossen erschienen sein. Kinder waren kleine Werkstücke, die unter dem Drill- und Erziehungshandwerk der damaligen Pädagogen und Schulmeister zu funktionierenden Elementen im preußischen Staats- und Militärwesen geformt zu werden hatten.

Vater Hans Heinrich wird es ebenfalls nicht besser gewusst haben. Woher auch? Seine Eltern starben im Abstand von zwei Tagen, da war er gerade mal drei Jahre alt. Mütterliche Liebe, väterliche Zuwendung, elterliche Wärme … was ist das?

Für jemanden, dessen Naturell den musischen Seiten des Lebens zugeneigt war, der kein Wolzow oder Vetter, sondern eher ein Peter Wiese war, um Dieter Nolls „Werner Holt“ zu bemühen, musste diese brutale Welt ein Albtraum von Bosch’schem Formate sein.

Wohin sollten solche Jungens flüchten? In welche Welt, außer in diejenige ihrer romantischen Träumereien und in die ihres Querflötenspiels? Von der realen Welt und ihrer Unbarmherzigkeit hatten sie keine Ahnung. Jeder Gassenbengel, jede Bordsteingöre wäre ihnen in dieser Hinsicht um Längen voraus gewesen.

So entwickelte sich die Tragödie folgerichtig. Nein, ein die Entwicklung des jungen Tragöden beleuchtendes Psychogramm des Hans Hermann Katte entwarf die bezaubernde Maria von Katte an diesem Abend nicht. Wie könnte sie auch? Das gibt keine Quellenlage her. Aber Streiflichter aus der Schulzeit, die lieferte sie in einem rhetorisch packenden Vortrag von geschliffener Eloquenz.

Doch – da lachte das Herz des Journalisten! Das war eine Hommage an die deutsche Muttersprache, die unter dem Geächze und Gestöhne der Jugend, die sich von Generation zu Generation von der Sprache ihrer Altvorderen abzugrenzen sucht, schier zu ersaufen droht. In all dem vergenderten Quatsch von Infos statt Informationen, von Dokus statt Dokumentationen, von Demos statt Demonstrationen und all den anderen Expressionen geistiger Rasenlatscherei und abgrundtiefer Dummheit erstrahlte in diesem kleinen ostelbischen Kirchlein an jenem Abend noch einmal alles, was diese wunderbare und reichhaltige Sprache zu bieten hat.

Die Dankesworte der Pfarrerin an die Vortragende waren demzufolge auch rührend, konnte aber dem Referat nicht gerecht werden. Nein, es ging nicht darum uns Zuhörende an die Possen unserer eigenen Schulzeit zu erinnern und uns damit ein vergleichendes Lächeln aufs Gesicht zu zaubern: „Na siehste – die damals auch schon …!“ Es ging darum, wie eine ganze Gesellschaft auch in ihren Schulen und Lehranstalten so herangebildet wird, dass sie letzten Endes verroht genug ist, einfache Deserteure durch Spießruten und wohlgeborene Deserteure durch das Schwert um ihr einziges gottgegebenes Leben zu bringen.

Das Gegenteil von Gut ist nicht Böse, sondern Gutgemeint. Diese Wahrheit manifestierte sich auch in den Francke’schen Stiftungen des frühen achtzehnten Jahrhunderts, die für ihre Zeit sicher progressiver Natur, dennoch selbst auch Gefangene ihrer Epoche waren.

Maria von Katte zitierte den König, der den Hallenser Pietätisten den Auftrag gab den Kindern beizubringen, dass es keine Sünde sei Soldat zu werden. Doch, nach christlicher Lesart ist es genau das. Der Beruf eines Soldaten ist das Töten. Das aber widerspricht dem Siebten Gebot des Alten und der Bergpredigt des Neuen Testaments.

Zugegeben, vom Hohen Ross eines Nachkriegsdeutschlands, das seit 1945 vor Kriegen im Landesinnern verschont geblieben ist, lässt sich das leicht sagen und entbehrt nicht einer gewissen und unberechtigten Arroganz der damaligen Epoche gegenüber. Es war die Zeit der Wölfe, wie sie das zwar heute auch noch ist. Aber die damalige Epoche tötete mit Säbeln und Kanonen, während es die heutige mit Kugelschreibern und Banken tut. Verschmähte man den Waffenrock und damit die Möglichkeit zu Angriff oder Gegenwehr, dann wurde man wahrscheinlich früher oder später okkupiert und war dazu verurteilt, eines anderen Herren Beutel zu füllen – wobei das für die Ausgebeuteten ziemlich gleichgültig gewesen sein dürfte, wessen Luxus auf ihrem Elend gründete.

So sehr wir den Vortrag der Maria von Katte genossen, so sehr erschütterte uns die kleine Andacht hernach in der Gruft zu ihren Füßen. In dieser, die wir letztmalig am Sonntag, dem 30. September 2007 besucht hatten, ruhen die sterblichen Überreste ihres Verwandten noch in dem nämlichen schlichten Holzsarg, der zum Letzten zählte, was Kattes Augen auf dieser Welt zu sehen bekamen.

Wir hatten ihn damals gesehen. Wir sahen den durch den kalten Stahl zertrümmerten Epistropheus. Es war ein Bild, das uns seither nicht mehr losließ. Wie mochte es da erst dem Kronprinzen und späteren König ergangen sein.

Wie der knallharte Vater es verfügte, musste Katte in dieser Kiste am Rande der Gruft liegen bleiben, denn dem Vater, der ebenso wie des Prinzen Vater nichts nach dem Warum fragte, bedeutete der „Verrat“ des Sohnes am König mehr, als der Sohn selbst. Nicht der König hatte ihm schließlich alles genommen. Es war der Sohn über den Tod hinaus, obgleich der arme Teufel ja schon nicht mehr als sein einziges Leben zur Sühne geben konnte. Doch dieser schnitt schließlich ihm, dem Vater die Ehre ab, als er, der Sohn, ihn dazu verurteilte der Vater eines fahnenflüchtigen Lumpen zu sein. In welcher horriblen und abstrusen Welt muss man leben, welche Dämonen müssen in solch einem Kopf hausen, um so abartig zu empfinden! Wie kann Gott es solchen Männern gestatten, Söhne zu zeugen!

Insofern hätte der Preußische Landbote dem Vaterunser, welches von den Anwesenden vor Kattes Sarg gesprochen wurde, gerne noch ein Gebet folgenden Wortlauts hinzugefügt:

Herr, gib den Leuten zu ihrem Verstand, der ihnen bislang nur dazu dient, dem Nächsten in die Taschen zu fassen, auch noch ein Herz und den Drang, dem Nächsten in dessen Herz zu schauen, ehe man den Stab über ihm bricht! Gib ihnen den inneren Wunsch, erst eine Meile in den Mokassins ihres Nächstens zu laufen, statt ihn mit Vorurteilen und vor allem Vorverurteilungen zu überziehen! Lass sie den gekreuzigten Rebben nicht über jeden Altar hängen, sondern dessen Geist und Worte in ihren Herzen und Seelen bewahren! Lass ihnen das Zuhören wichtiger werden als das eigene Reden! Aaa-meiin!

Man verzeihe uns das synagogale Gebets-Schlusswort. Es ist uns näher als das Amen des Feldpredigers, dieses erbarmungswürdigen Statisten eines schrecklichen Rituals, der zu Küstrin eine arme Seele in den grausamen Tod entließ – nicht im Namen Christi, sondern im Namen Des Königs von Preußen und Der Menschlichen Dummheit.


Der Sarg des armen Katte

 
B
13. Volumen

© B.St.Ff.Esq., Pr.B.&Co,2012

06.11.2022