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Alle Räder stehen still
Reichsbahner streiken pünktlich zum Wintereinbruch

Michael L. Hübner
Es ist saukalt. Der Winter ist noch einmal zurückgekehrt nach Ostelbien. Frierend stehen einige wenige Leute auf den Bahnsteigen. Es sind die, welche kein Automobil haben. Sie können nicht anders. Sie sind auf die Eisenbahn angewiesen. Doch der Zug kommt nicht. Ein Warnstreik war angesagt worden. Die Wartenden frieren nur. Die anderen, die sich über die verschneiten und glatten Chausseen und Autobahnen quälen, die sitzen zwar noch im Warmen, das aber nur solange, bis es kracht. Am 18. März 2013 gefährden Eis und Schnee die Leute hochgradig. Autos, Busse und Lastkraftwagen stellen sich quer zur Fahrbahn, rutschen in die Straßengräben, fahren ineinander. Am Straßenrand verletzt und mit Schmerzen auf die Einsatzkräfte des Rettungsdienstes wartend, frieren jetzt auch sie.

An einem solchen Tag streiken die Eisenbahner. Donnerwetter! Der Zeitpunkt war gut gewählt! Er ließ sich selbstredend auch nicht verschieben. Sie ahnen ja nicht, mein Lieber, was hinter einem solchen Streik für ein organisatorischer Aufwand steckt! Was ist ein einziges Menschenleben wert? Eine Steigerung des Tariflohns um 2 Prozent? 3 Prozent?

Eine junge Frau steht auch auf dem Perron. Sie muss pünktlich in dem einhundert Kilometer entfernten märkischen Städtchen ankommen, in dem sie ihre Ausbildung absolviert. Wenn sie gute Leistungen erbringt und nicht durch Zuspätkommen oder Abwesenheit auffällt, dann könnte sie in ein paar Monaten Beamtin sein. Soziale Sicherungssysteme Adieu für alle Zukunft! Eine harte Zeit hat sich dann nicht nur für die Gesellschaft, sondern auch und gerade für sie gelohnt. Eine Zeit, in der sie auch täglich bis zu sechs Stunden auf der Bahn verbrachte. Wie sie in ihre Schule kommt, ist ihrem Dienstherren wurscht. Es interessiert ihn nicht. Der Beamte hat sicherzustellen, dass er zur geforderten Zeit an seinem Arbeitsplatz sitzt. Die Bahn streikt? „Das ist nicht unsere Sorge, gute Frau. Dann müssen Sie in die Nähe ihres Einsatzortes ziehen. Aber das ist uns egal. Sie haben sich zu kümmern, dass...“ Die junge Frau ist hilflos, ratlos, den Tränen nah. Was soll, was kann sie für die Reichsbahner mehr tun, als von ihrem schmalen Salär das nicht eben billige Monatsbillett zu bezahlen? Nichts! Gar nichts. Sie ist ja auch nur ein Druckmittel, Verhandlungsmasse der Eisenbahnergewerkschaft, in Haftung genommen von Leuten, welche sie ihrerseits nicht einmal zur Kenntnis nehmen. Sie nicht und nicht all die anderen, die unter den Folgen des Streiks zu leiden haben. Sie hat mit ihrem Billett ein Anrecht erworben, zu ihrem Ausbildungsort befördert zu werden. Sie wird aber nicht befördert. Bekommt sie wenigstens ihr bezahltes Geld erstattet? Nicht die Bohne! Streik – das ist anscheinend Höhere Gewalt, ein Argument, was die junge Frau an ihren Dienstherren nicht weitertragen kann. Beziehungsweise eines, was den nicht interessiert. Ist das Höhere Gewalt? Nein! Es ist an diesem Tage des Wintereinbruchs eine unsinnige, unüberlegte und in ihrer Verantwortungslosigkeit niedrige Gewalt!

Dass die Bahner für ihre anständige Arbeit ordentlich und angemessen entlohnt werden müssen und diese Forderung erheben, das ist legitim. Das müssen sie auch durchsetzen können. Wir aber sind überzeugt, dass man mit etwas mehr sozialer Verantwortung und etwas weniger Egoismus auch die eigenen Interessen mit denen Unbeteiligter abgleichen kann. Daran ließen es die Reichsbahner missen. Sie bezahlen diesen Unverstand mit einem hohen Preis – der Solidarität durch die Bevölkerung. Auf lange Hinsicht aber ist es genau diese Verankerung in der Basis der Gesellschaft, die für die Töchter und Söhne des Geflügelten Rades weitaus wichtiger sind, als 2% mehr Lohn und ein dreizehntes Monatsgehalt. Aber das werden sie auch noch lernen, früher oder später.

23. Volumen
© B.St.Ff.Esq., Pr.B.&Co,2009
22.03.2013