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Noch fünfhundert Meter gereadeaus!
oder: „Sie haben Ihr Ziel verfehlt.“

Michael L. Hübner
“Der is dood, der is dood”, gellen die Rufe des Rettungssanitäters durch den Rettungstransportwagen. Der Rettungsassistent und der Notarzt schauen ungläubig, der Patient entsetzt. Denn der Sanitäter hatte ihm gerade ein EKG angelegt. Es zeigte eine Nulllinie. Finito! Der Patient will es nicht wahrhaben. Er atmet doch, sieht und versteht alles – außer das wirre Gestammel des Sanis. „Kieck doch mal rüber“, brummelt der Notarzt zum Assistenten. Der schaut auf die Kabel des Gerätes, konnektiert sie noch einmal nach. „Miep, Miep, Miep“, sagt das Gerät freudig, zeigt einen wunderbaren P-Q-R-S-T-U-Wellen- und Kurvenkomplex. Alles im Takt, alles im Lot. Das Gesicht des Patienten bekommt weichere Konturen, entspannt sich, der Sani wird knallrot, der Assistent schüttelt den Kopf, delegiert den Sani hinters Steuer: „Fahr los, Mensch!“ Während der Fahrt erzählt der Notarzt von seiner Freundin und ihrem S 50, wie das damals auf der Straße irgendwo in der Uckermark stehengeblieben war und sie das Moped durch den naßkalten Novemberregen sechs Kilometer nach Hause geschoben hatte und dort anderthalb Stunden später fürchterlich fluchend ankam. „Scheiß Simme!“ hatte sie gebrüllt und „So'n Schrotthaufen!“ Der Notarzt, damals noch ein junger Bursche, war in den Stall gegangen, hatte den Benzinhahn auf Reserve umgestellt, fuhr die drei Kilometer zur Tankstelle nach A., tankte, brachte die Simson S 50 zurück auf den Hof, stellte sie in den Stall und beschied seiner noch immer zornigen Verlobten: „Kannste morgen wieder mit zur Schule fahren. Nu hat se ja wieder Sprit, da looft se auch wieder wie 'ne Biene.“
Die beiden Mediziner und ihr Patient lachen. Der Sani hört es durch die halb geöffnete Scheibe mit, dreht sich nicht um und ihm ist alles andere als nach Lachen zumute. Er, der so gerne an dem Navigationsgerät herumfummelt, wenn sein Rettungsassistent und er zu einem Einsatz geordert werden und dafür jedes Mal vom Assi was auf die Pfoten bekommt. Wenn sein Bordchef ihn dann wirklich mal nach einer Straße fragt, beherrscht er wenigstens noch den Stadtplan und den Kaupert, denn man fährt durch Berlin – und der Kaupert ist Berlins blaue Straßenbibel.
Nun wird Köln keinen Kaupert haben. Aber Stadtpläne von Köln, die gibt’s noch allenthalben. Aber wer kauft sich schon noch einen Stadtplan! Unnütz kompliziertes Zeug aus der Steinzeit! Und zum Fenster rausgeschmissenes Geld obendrein. Das nämlich bezahlt der moderne Straßenpilot nur einmal – für ein ordentliches Navi! Da hat man doch schließlich ganz Europa drin. „Drin“ ist erstmal das Automobil eines stolzen Navibesitzers, der seinem Gerät so blind vertraute, wie einst der Sani der Anzeige des EKG. „Drin“ heißt: im Rhein. Der Mann war bei Köln unterwegs. Dichter Nebel erschwerte die Sicht. Also, was tut man? Man fährt nach Gehör, bloß nicht nach Verstand! „Fünfhundert Meter geradeaus“ flötet die sympathische Frauenstimme aus dem Navi in des Fahrers Radartüten, bevor sie mitsamt ihrem Gerät und dem Auto und beinahe auch dem Fahrer im Rhein versinkt. Vielleicht hätte sie ihm sagen sollen, dass dort vorne eine Fähre statt einer Brücke über den Strom führt. Blöd nur, dass eine Brücke ständig, eine Fähre aber nur ab und an verfügbar ist. Es klatscht, es gluckert, ein Radfahrer wird auf den Trottel aufmerksam. Es gelingt ihm, den technikhörigen Kamikaze und seine Fahrgäste aus dem versinkenden Automobil zu bergen. Das Automobil und das Navi nimmt Vater Rhein derweil ein Stückchen mit auf den Weg nach Rotterdam. Was sie dort sollen, weiß der deutscheste aller Flüsse auch nicht. Es kümmert ihn auch nicht.
Der Trottel muß nun blechen für den ganzen Schaden. Denn – wenn zu Wasser nach Rotterdam, dann auf einem Lastkahn oder einer Schute – nicht aber auf dem Grund des Rheins. Wenn der letzte und unfreiwillige Vertreter der deutschen U-Boot-Waffe ein waschechter Wessi ist, wird er den Navi-Produzenten verklagen und versuchen, die Kosten an diesen weiterzudelegieren: „Die sind doch schuld! Man muss sich doch auf die Technik verlassen können. Schließlich entwickeln wir ja den ganzen Krempel, damit wir unseren Verstand mehr und mehr abschalten können! Da war von keiner Fähre die Rede...“ Na ja, das Geblaffe kennen wir und auch das wütende Geschimpfe auf den „Scheiß-Staat“, wenn ihm ein Richter erklärt, dass eine unvollkommene Technik keinen Kapitän von seiner Verantwortung entbindet. Es ist ein Wahnsinn – aber einer, der Methode hat. Seit der oben erwähnten Steinzeit haben sich Menschen eine Welt eingerichtet, außerhalb derer sie nicht mehr zurande kommen. Teils ging das nicht anders. Der Fortschritt in der Gesellschaft verlangte von den Menschen eine zunehmende Spezialisierung, die sie in steigendem Maße daran verhinderte, sich ausreichende Fertigkeiten in den übrigen Lebensbereichen zu bewahren. Der Neandertaler musste noch alles können, was ihm der tägliche Überlebenskampf abverlangte. Der moderne Tischler aber kann nicht gleichzeitig Arzt und Brückenbauingenieur sein. Er muss sich auf den Arzt verlassen können und er sollte auch den Fähigkeiten des Ingenieurs vertrauen dürfen, wenn er auf dem Weg zum Arzt über die Brücke muss. Sollte man sich deshalb aber blindlings ausliefern? Selbst unter Aufgabe des eigenen Verstandes? Wer das macht, wer die Annehmlichkeiten, die der Fortschritt bietet, nicht mehr kritisch reflektiert, der erklärt irgendwann einmal einen quicklebendigen Patienten für tot, schiebt sein Moped durch den Novemberregen und karrt hinterher in den Rhein. Der entmündigt sich selbst – und das gar nicht so selten auch zum Schaden Anderer. Nur Reichswehr, Wehrmacht und NVA boten ihren Soldaten das Privileg, das Hirn am Kasernentor abgeben zu können. Also – lachen wir drüber und versäumen nicht, uns im Nachgang unseres eigenen Gripses zu entsinnen. Den hat uns nämlich unser Schöpfer mitgegeben, lange bevor EKG, Moped und Navi unser Leben bereicherten!

17. Volumen
© B.St.Ff.Esq., Pr.B.&Co,2009
18.11.2010