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Oberbürgermeister
Dr. Wilhelm Sievers

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Dr. Kurt Tucholsky

 

Alle Namen, bis auf die von Oberbürgermeister Dr. Wilhelm Sievers, Gauleiter Hinrich Lohse (Schleswig-Holstein) und NSDAP-Kreisleiter Ferdinand Heppner (Brandenburg an der Havel) und einigen anderen stadtbekannten Personen und Persönlichkeiten wurden aus datenrechtlichen Erwägungen heraus geändert.

Das Quellenmaterial entstammt größtenteils der Ermittlungsakte gegen Dr. Wilhelm Sievers.

von Herrn B. St. Fjøllfross
Im Kontext eines geschichtswissenschaftlichen Projektes, mit dem sich der Chefredakteur des Preußischen Landboten, Herr B.St.Fjøllfross, zeitweilig befaßte, rückte die Person eines Oberbürgermeisters der alten Dreistadt Brandenburg in den Fokus der Recherchen.
Die Dinge, die dabei ans Tageslicht traten, führten zur Diskussion, ob diesem Manne, der der Gemeinde zwischen 1938 und 1945 vorstand, im Landboten der Platz für einen Aufsatz zuzubilligen sei. Es war ein harter Kampf. Wir entschieden uns für den Artikel. Die Entscheidung fiel während eines Arbeitsessens vor dem Hause des ehrenwerten Oberbürgermeisters Simon Karpzow und seiner Frau Anna Limtholtz in der Brandenburger Steinstraße. Diese bedeutendste West-Ost-Achse der Brandenburger Neustadt mündete einst in dem wundervollen und gewichtigen Prospekt des Neustädtischen Rathauses, bevor sie an dem Bauwerk vorbei ihren Weg nach Spandau fortsetzte. Nun verliert sie sich in der Leere des unbebauten Platzes und macht deutlich, wie nachhaltig die geliebte Heimatstadt in den Tagen des letzten Krieges geschändet und verwundet wurde.
Der Oberbürgermeister Dr. Sievers war ein leitender Beamter des Staates und Funktionär der Partei, die diesen furchtbaren Verlust herbeiführte. Als er die Steinstraße, vom Steintorturm kommend, hinunterlief, konnte er sich des Rathauses, das auch sein Dienstsitz war, noch erfreuen. Uns Nachgeborenen aber verwehrte er und seinesgleichen durch verbrecherisches Tun diese Wohltat. Es ist an der Zeit, diesem Manne den Dank abzustatten, der ihm zukommt. Es ist an der Zeit, daß sich ein Brandenburger Blatt, so auflagenschwach es auch sein mag, dieser Aufgabe annimmt.
Wo ist er geblieben, dieser Oberbürgermeister Dr. Sievers? Liegt er unter den Trümmern seines Amtsitzes, den er nach eigenem Bekunden halten oder „mit fliegenden Fahnen“ untergehen wollte? Nein, er liegt auf dem Kieler Nord-Friedhof, in der Stadt, die ihn nach dem Kriege noch in höchste kommunale Positionen lancierte.
Doch dazu später.
Wir haben gelobt, der Verantwortung eines jeden reellen Historikers gerecht zu werden und objektiv zu urteilen. Denn jeder Historiker ist immer auch ein Richter vor der Geschichte. Er kann sich dieser schweren Last nicht entziehen, ob er das will oder nicht.
Wer richtet, wer anklagt, ist, wie auch ein Staatsanwalt, verpflichtet, auch und gerade nach entlastenden Tatsachen für den Beschuldigten zu suchen. Wer dies nicht tut, offenbart den Lumpenhund nicht beim Angeklagten, sondern bei sich selbst.
Darum werden wir tunlichst nennen, was zugunsten des OBM Dr. Sievers anzuführen ist. Der Leser möge sein Bild formen.
Um die Person des OBM Dr. Sievers zu beleuchten, ist es notwendig, einen Blick auf die Biographie dieses Mannes zu werfen. Dabei werden wir sogleich einen Punkt berühren, der das Erscheinungsbild des grundverdorbenen Nazis etwas relativieren wird. Wilhelm Sievers wurde am 02. Dezember 1896 als Sohn eines Eisenbahnrangiermeisters in das harte Leben der werktätigen Bevölkerung des zu spät gekommenen deutschen Kaiserreiches hineingeboren. Er wuchs in einer völkisch und national vergifteten Atmosphäre auf, die der über Jahrhunderte hinweg von allen europäischen Mächten geprügelte Michel ausdünstete, nachdem er im Zuge der gewonnenen Kriege von 1870/71 seine ungeheuren Muskeln anspannte, einen wirtschaftlichen Aufschwung von nie dagewesenem Umfang lostrat und irgendwann feststellte, daß ihm für diesen Gewaltritt zum Ersten die Rohstoffquellen und zum Zweiten die internationalen Absatzmärkte fehlten. Der Haß gegen die Völker, die ihre nationale Einheit und zentrale und damit effiziente Verwaltung gerade auf Kosten Deutschlands etablierten und frühzeitig die Weltwirtschaft untereinander aufteilten, brach sich in hemmungslosem Chauvinismus Bahn, dem die deutsche Jugend schon von frühesten Kindesbeinen an ausgesetzt war. Diese anstehenden Verteilungskämpfe gipfelten dann im Ersten Weltkriege, an dem Sievers seit den ersten Kriegstagen freiwillig teilnahm. Er scheint kein Dummer gewesen zu sein. Rasch avancierte er in der militärischen Hierarchie zum Offizier und war schon zwei Jahre später mit 19 Jahren jüngster Träger des EK I.
Nach dem Kriege nahm er ein Studium der Rechts- und Staatswissenschaften in Kiel, Marburg und Königsberg auf, das er erfolgreich abschloß. 1923 finden wir Sievers schon bei der Rechts- und Steuerberatung beim Kreislandbund Bremervörde. 1928 wurde er dann aufgrund seiner vorgelegten Dissertation zum Doktor promoviert.
So weit so gut.
Am 25. Julei 1925 trat er der NSDAP mit der Mitgliedsnummer 12007 bei und scheint von Anfang an kein bloßer Karrierist gewesen zu sein, da es zu dieser Zeit noch keineswegs erfolgsverheißend war, sich zu den Nazis zu bekennen. Diese Erfahrung stand Sievers noch bevor.
Die Ideen, die diese Partei programmatisch verkündete, zogen den fast Dreißigjährigen magisch an. Zu sehr hatte er Deutschland nach dem verlorenen Weltkriege in tiefstem Elend und größter Demütigung erleben müssen – man kann in ihm einen ehrlichen Idealisten der Anfangsjahre sehen. Seine NSDAP-Mitgliedschaft brachte ihm dann die Kündigung seitens des Kreislandbundes. Die erste ernste Inzisur auf dem Weg nach oben. Doch Sievers war nicht der Mann der Resignation.
Die Macht und die Attraktivität der nationalsozialistischen Bewegung wuchsen unaufhörlich und so finden wir den Rausgeworfenen schon 1928 als Bürgermeister von Visselhövede in der Lüneburger Heide, 1931 als Bürgermeister von Eckernförde und schließlich nach der Machtübernahme 1933 als Bürgermeister der als schwierig geltenden Grenzstadt Flensburg.
Obwohl von seinen Vorgesetzten mit reichlichen Vorschußlorbeeren bedacht – Sievers trug bereits das Goldene Parteiabzeichen – kam es hier zu den entscheidenden Verwerfungen im Leben des Wilhelm Sievers.
Es ging um Geld, um was auch sonst! Das waren keine parteipolitischen Differenzen, keine Abkehr vom Nationalsozialismus, iih – bewahre!
Der kleine kommunale Beamte Sievers legte sich in Berentungsfragen für eine gewisse Beamtenschicht, deren Teil ja auch er selbst war, mit einem der mächtigen Regionalfürsten der Nazis, mit Gauleiter Lohse an. Ein bißchen Naivität, ein bißchen Konspiration – der Nackte Affe ist ein politisches Vieh.
Doch Lohse saß zu fest im Sattel, als daß irgendein Subalterner, den Sievers vor den eigenen Karren zu spannen versuchte, darauf ernsthaft eingegangen wäre. Eichen schubst man nur um, wenn sie innerlich morsch und hohl schon den Geruch der Fäulnis verströmen. Lohse war in Saft und Kraft. Und so verrieten die Parteigenossen den Kameraden Sievers reihenweise, nachdem sie ihm vorher noch auf die Schulter geklopft hatten: „Anerkennung, lieber Sievers, Donnerwetter! Ein aufrechter, kreuzbraver und anständiger Nationalsozialist. So was trifft man selten heutzutage!“ Lohse schlug zurück.
Sievers kämpfte um seine „Ehre“, rief ein Parteigericht an. Lohse grinste und überrollte den kleinen, lausigen Querulanten selbst dort mühelos. Ab da war’s erstmal aus.
Sievers wurde mit sofortiger Wirkung von seinem Bürgermeisterposten beurlaubt und verdonnert, auf zwei Jahre kein Parteiamt zu bekleiden. Darüber hinaus nahm man ihm in vorrauseilendem Gehorsam das Goldene Parteiabzeichen ab, obwohl das nicht einmal Gegenstand des Spruches des Reichsparteigerichtes gewesen war.
Sievers war gesellschaftlich erledigt. Mit den öffentlichen Ämtern war es zunächst Essig. Auch die freie Industrie wollte den dußligen Putschisten nicht auffangen, der es mit beispielloser Instinktlosigkeit gewagt hatte, den mächtigen Gauleiter Hinrich Lohse herauszufordern.
Als Sievers dann in Berlin noch zugetragen wurde, daß wegen des Zwistes mit Lohse schon eventuell die Gestapo in Kiel auf ihn warte, sondierte der ehemalige Frontsoldat eifrig die Möglichkeiten, sich nach Dänemark abzusetzen. Das Land unter dem Dannebrog aber verweigerte dem Nationalsozialisten die Zuflucht. Wie der potentielle Flüchtling Sievers später über Menschen dachte, die sich aus brenzligen Situationen herauszuretten suchten, wird im Folgenden noch Erwähnung finden.
Ein wenig Erlösung tröpfelte auf den Geschlagenen zu Hitlers Geburtstag 1937, als er der Segnungen einer Amnestie teilhaftig werden durfte. Just zu dieser Zeit sägte man den deutschnationalen und monarchistisch gesinnten Oberbürgermeister Dr. Kreutz zu Brandenburg an der Havel ab, dem man eine NSDAP-Aufanhmeunwürdigkeit attestierte. Der oberste Posten der alten Chur- und Hauptstadt war vakant – siebzig Bewerbungen liefen ein. Sievers gewann das Rennen.
Und jetzt ging es los. Das gebrannte Kind kam in eine ehemalige rote Hochburg und hatte sich zu bewähren!
Kaum im Amte, ordnete die Parteispitze das fürchterliche Judenpogrom vom 09. November 1938 an, das unter dem elenden und irreführenden Namen „Reichskristallnacht“ in die Geschichte einging. Tags zuvor war der frischgebackene Oberbürgermeister im Range eines SS-Obersturmbannführers in Himmlers Schwarzen Orden aufgenommen worden. Himmler als oberster Polizeichef hatte die Anordnung getroffen, daß hohe Beamte den paramilitärischen Organisationen der Partei beizutreten hätten. Wir haben wenig Anlaß zu befürchten, Sievers hätte sich in der schneidigen Uniform besonders unwohl gefühlt.
Als ihm die Nachricht vom Brande der neustädtischen Synagoge in der Großen Münzenstraße überbracht wurde, eilte er just in dieser Uniform zum Schauplatz. Keine Zeit gehabt, sich umzuziehen?
Nun äußerte er eigenen Nachkriegs-Bekundungen zufolge seinen Unmut über das Geschehen und stellte die ihm untergebenen Polizeikräfte ab, um jüdische Bürger und deren Eigentum in Brandenburg zu schützen.
Ja genau! Das paßt auch so wunderbar ins Bild eines auf Bewährung eingesetzten strammen Nazi-Oberbürgermeisters. Ein Report bezüglich derart unarischen Verhaltens an höhere Dienststellen hätte ausgereicht und dem Meister Sievers hätte keine Amnestie mehr über den Berg geholfen!
Die Zeugenaussagen, die allerdings nach dem Kriege von einer nunmehr roten Stadtregierung zusammengesammelt wurden, sagen unisono das Gegenteil aus: Alles ging unter der Aufsicht von Sievers vonstatten, die Polizeibeamten schikanierten die „schutzbefohlenen“ Juden zusätzlich, Kritiker wurden vertrieben.
Nun muß man abschwächend darauf hinweisen, daß eben diese Aussagen vor dem Hintergrund einer völlig veränderten politischen Landschaft getroffen wurden. Die Menschen – anpassungsbedürftig wie sie nun mal sind – werden ihre Erinnerungen sehr wohl den Bedürfnissen der neuen Mächtigen angepaßt haben. Zumindest wurden diese Erinnerungen dann auch noch einmal durch das Sieb der roten Vorgaben gefiltert. Auch das darf zu Gunsten Sievers nicht verschwiegen werden.
Dennoch, viele Zeugenaussagen ergeben ein homogenes Bild vom Ablauf der Ereignisse. Stellt man dieses Bild in den Zusammenhang mit den Erfahrungen, die uns über Menschen und ihre Handlungsweisen in gewissen Positionen und unter bestimmten gesellschaftlichen Bedingungen vorliegen, dann sind wir geneigt, diesen Zeugenaussagen größere Authentizität beizumessen, als den Sievers’schen „Memoiren“ vor einem westdeutschen Schwurgericht in der Nachkriegszeit. Persönliche Ambitionen und Motivationen sind doch allzusehr gefärbt von den Umständen, in welcher sich der Betreffende behaupten darf oder eben muß!
Aus der Aussage eines in seiner Person für uns sehr ernstzunehmenden und seriösen Charakters, des Dr. Ing. Erbs, der lange Zeit als Stadtbaurat an prominenter Stelle seiner Heimatstadt diente, wetterleuchtet uns ein unangenehmes Streiflicht entgegen, welches das Bild des Intellektuellen Sievers sehr bedenklich eintrübt. Anläßlich einer Sitzung des Stadtrates, in welcher ein Teilabriß der historischen Stadtmauer zur Debatte stand, verwahrte sich Erbs entschieden gegen dieses Vorhaben und verwies auf den Denkmalschutz. Der Gauredner Sievers, dessen Partei soviel vom Ahnenerbe schwafelte, würgte Erbs ab und beendete das Thema mit den Worten: “Wenn Sie nicht in der Lage sind, diese Pissmauer abzureißen, dann werde ich das mit meinen Magistratskollegen machen.“ Wenn diese Worte so fielen, dann offenbart sich hier niedrigste Proletengesinnung. Wurde das schäbige Vorhaben umgesetzt, so hat dieser Stadtbeamte Sievers schon zur Zeit seiner kaum beschränkten Machtausübung die Vernichtung von wertvollstem Stadteigentum betrieben, lange bevor er und seine Spießgesellen die alliierten Truppen reizten, das barbarische Werk zu vollenden.
Wir wollen an dieser Stelle nicht alle Taten und Untaten dieses Mannes würdigen. Möglicherweise hat er auch das ein oder andere für die Industriemetropole Brandenburg getan. Möglicherweise hat er auch dem einen oder anderen Mütterchen mal über die Straße geholfen.
Für uns ist er der Oberbürgermeister in Brandenburgs schwärzester Zeit. Er hatte sich die politische Abteilung der Kriminalpolizei unterstellt, die mit vehementem Sadismus gegen Mißliebige und Andersdenkende vorging. Besonders verkommene Kreaturen wie der Kriminalbezirkssekretär Walter Kriesche machten unter ihm Karriere. Kriesche war nach Aussage seines Kollegen von der normalen Kripo und Augenzeugen des Synagogenbrandes, Kriminalinspektor Davidis*, vormals ein kleiner unbedeutender Polizeiwachtmeister, ehe er sich zum von Sievers geschätzten Sadisten und Schläger empor diente.
In diesem Zusammenhang verweisen wir auf das Schicksal der Gynäkologin Frau Dr. med. Lilli Friesicke, die allein ihrer mosaischen Herkunft wegen verhaftet und zum Abtransport in den Keller des Neustädtischen Rathauses verschleppt wurde, wo sie sich im Angesicht des sie Erwartenden das Leben nahm.
Nicht zu vergessen ist das Zuchthaus Brandenburg, von dessen grauenvollem Innenleben Sievers nichts gewußt haben will. Die Tötungs- und Verwertungsorgien durch die Mordärzte der Landesirrenanstalt Brandenburg/Görden gingen an Sievers’ Aufmerksamkeit zur Gänze vorbei. Ganz im Gegenteil bezeichnet er den Oberarzt Dr. Bimmler, einen der dynamischen Organisatoren dieses als Euthanasie getarnten Verbrechens in seiner Eigenschaft als Chefarzt des Ausländerkrankenhauses (Ausländer ist hier gleichbedeutend mit Zwangsarbeiter) als vorbildlich. Dabei stellte sich heraus, daß in jenem „Krankenhaus“ hilflose Zwangsarbeiter bestialisch ermordet wurden.
Bimler war denn auch derjenige, der das Auffangen des Blutes der im Zuchthaus Brandenburg guillotinierten Menschen anregte und durchführte, um Blutkonserven zu gewinnen. Dieser unter dem Mantel des Pragmatismus einhergehende, abartige Schweinehund benahm die Opfer der Nazis mit dieser barbarischen Handlungsweise der Menschenverwertung, wie wir sie sonst nur aus Buchenwald oder Auschwitz kennen, ihrer letzten Würde. Das Blut dieser Menschen drängt uns, unsere Stimme zu erheben, für die, die das nicht mehr können.
Um zu einer abschließenden Bewertung des Oberbürgermeisters Sievers zu kommen, werfen wir noch einmal einen Blick auf die letzten Kriegsstunden der Stadt Brandenburg. Der Oberbürgermeister, der sich gegen eine von der Wehrmacht vorgeschlagene Öffnung der Wehrmachts-Nahrungsmitteldepots am Silokanal verwahrte, weil dies einem Eingeständnis einer Kapitulation gleichgekommen wäre, der Oberbürgermeister, der eine Initiative Bürgermeister Engelbergs boykottierte, die Brandenburg zur „Offenen“ – oder Lazarettstadt erklären sollte, um die Stadt vor weiteren Kriegseinwirkungen zu schonen, der Oberbürgermeister, der Tausenden Frauen und Kindern die Evakuierung untersagte, dieser Oberbürgermeister rannte, als die Rote Armee schon die Stadtmitte besetzt hielt, in die Infanteriekaserne und drohte dem Hauptmann Scherer* und dessen in Auflösung befindlicher Truppe mit dem Tode durch Erschießen wegen Fahnenflucht.
O tapferer Idealist bis zur letzten Stunde! Sehen wir diesen Aufrechten jetzt mit gezogener Pistole den Rotarmisten entgegenstürmen? Sehen wir ihn, wie er den Heldentod sucht und findet?
Wir müssen Sie bitter enttäuschen. Seine eigene Familie war wohlversorgt und evakuiert – aller Symbolik eines Eingeständnisses des verlorenen Krieges zum Trotze. Und nachdem Sievers seinen letzten realitätsfernen Mumpitz schwadroniert hatte, machte er sich selbst auf die flüchtigen Socken zur vierzig Kilometer entfernten Elbe.
Wollte er sich als feigen Deserteur seinen eigenen Drohungen zufolge am Ufer der Elbe selbst richten? Vielleicht. Daß dem EK I – Träger der Mumm fehlte, sich selbst zu erschießen – nun gut! Nehmen wir zu seinen Gunsten an, er wollte sich ersäufen und so stürzte er sich in die frühsommerlichen Fluten.
Die Elbe wollte so etwas wie ihn auch nicht und spuckte ihn – oh Wunder – am anderen, am amerikanischen Ufer wieder aus. Dort stellte er sich den Alliierten Truppen, von denen nicht zu erwarten war, daß sie ihn postwendend nach Workuta schicken würden.
Die Alliierten brachten ihn für einige Zeit in ein Internierungslager und ließen ihm von einem westdeutschen Schwurgericht in Hiddensen/Lippe den Prozeß machen.
Hier nun begann das große Gejammer des Dr. Wilhelm Sievers. Kläglich ist sie zu lesen, die Verteidigungsschrift des früheren Potentaten. Ein berühmtes Max-Liebermann-Zitat schwebt im Raum.
Alles, was er zu seiner Verteidigung und Entlastung aufführt, wirkt auf den zweiten Blick madig, wurmstichig, hohl, wenig substantiell.
Hier zählt er auf, wie viele Menschen er vor dem Zugriff der Gestapo bewahrt habe. Diese Antifaschisten entpuppten sich dann als gemeine Fahrradschieber, denen die Gestapo wegen Sabotage auf den Fersen war.
Der Mann, der nach eigenem Bekunden die Juden schützte, untersagte einem deutschen Unteroffizier die Eröffnung eines Lebensmittelladens in der Flutstraße mit der Begründung: …zu große Nähe zum Judentum. Die Schwiegermutter des Unteroffiziers war Jüdin.
Eine Halbjüdin durfte ihren Posten als Theaterkassiererin eine Zeitlang behalten, nicht weil Sievers so um die Juden besorgt war, sondern weil er sich gegen die NSDAP-Kreisleitung durchzusetzen suchte, die ihm permanent die Macht beschnitt.
Er, Sievers, wollte sogar noch linientreuer sein als diese Kreisleitung und regte zu einer Zeit, da er nach eigener Nachkriegsaussage „längst fertig mit Hitler war“, die Verhaftung eines alten SPDlers an, der sich nichts weiter hatte zuschulden kommen lassen. Das wurde selbst dem Kreisleiter Heppner zuviel, der sich diese Maßnahme mit der Bemerkung verbat, ’man solle doch den Mann endlich in Ruhe lassen, der hätte doch gar nichts getan.’
Einem verwitweten Antragsteller und Vater eines unmündigen Knaben bewilligte er noch Ende 1944 die Verlängerung einer kleinen Rente bis zum März 1945, weil dann der Bursche volljährig sei und sein Einkommen als „Ostsiedler“ selbst bestreiten könne. Völlig fanatisch, völlig verblendet oder völlig verrückt? Oder alles zusammen?
Die Rechtfertigungsschrift aus der Internierungshaft des Dr. Wilhelm Sievers ist das unwürdige, uns millionenfach entgegenplärrende Gewinsel, das so vielen gestürzten Mächtigen immanent ist, wenn sie Farbe bekennen müssen. Göring und Konsorten haben es vor dem Nürnberger Tribunal vorgemacht, Honecker und Konsorten wiederholten das unwürdige Schauspiel, da ist der Oberbürgermeister Dr. Sievers nur ein winziges, ein erbärmliches Rädchen in einem elenden Getriebe.
Wie sie Verantwortung von sich weisen, die früher anderen martialisch jede Last aufzubürden verstanden! Wie sie nicht einmal in der Lage sind, mit dem Begriff Verantwortung etwas anzufangen, da sie sich doch in besseren Tagen vor ihren Mitmenschen pranzend als Verantwortungsträger aufspielten!
Und diese Leute finden bis auf unsere heutigen Tage Apologeten für und für. Warum? Weil sie ihren Familien und Freunden ein anderes Gesicht zeigten als das „Amtliche“? Weil sich diese Familien und Freunde nur an dieses Gesicht erinnern wollen?
Das wäre – menschlich gesehen – nachvollziehbar. Unterstützen können wir solche selbstbetrügerischen Attitüden nicht. Wir sind Preußen. Wir beurteilen ohne Ansehen der Person – glasklar, nüchtern und nach Sachlage!
Verurteilt wurde er zu 13 Monaten Haft wegen Mitgliedschaft in verbrecherischen Organisationen wie SS und SD. Bei Prozeßende war er ein freier Mann – die Zeit der Internierung wurde angerechnet.
Der Stadtschänder Sievers – nun begann seine zweite Karriere.
Eine Rechtsanwaltskanzlei in Kiel gibt ihm Lohn und Brot. 1951 ist er schon juristischer Berater des Landesverbandes der Inneren Mission zu Kiel, ab 1949 besitzt er bereits das Parteibuch der CDU. 1952 ist er schon Vorsitzender der CDU in Kiel, 1951 wird er in der Ostseestadt an der Förde als Ratsherr vermerkt und 1955 ist er gar Stadtpräsident.
1959 tritt er vergnatzt aus der CDU aus und legt seine Ämter nieder, weil man ihn bei einer anstehenden Neuwahl auf hintere Listenplätze verwiesen hat. Das Leben meinte es halt nicht gut mit ihm, dem Dr. Wilhelm Sievers.
Wir wollen trotzdem fair mit ihm umgehen, bis zur letzten Zeile.
Am 01. Julei 1966 ist die irdische Existenz des Dr. Wilhelm Sievers beendet.
Ein Zeitzeuge, der Gerichtsmediziner Dr. med. Meyers* jedenfalls schloß eine Stellungnahme zur Person des ehemaligen Stadtoberhauptes mit den Worten: Sievers möge sich vor Gott seiner Taten verantworten!
Um uns diesem Stoßgebet anzuschließen, fehlt uns leider der Trost des Glaubens. Es fehlt uns auch der Glaube, daß die Nachgeborenen je aus den Fehlern der Vergangenheit lernen werden. Sie färben ihre Uniformen, Kleidungsstücke und Parteiabzeichen – aber sie bleiben ewig dieselben! Höhere, gesellschaftsübergreifende Ziele bleiben wenigen Phantasten und Idealisten vorbehalten, bei denen man sich vorsehen muß, ob sie ihren Idealismus nicht einst zur scharfen Waffe schmieden.
Dr. Sievers kann von uns keinen Freispruch erwarten. Sein Gedächtnis möge in Brandenburg nicht getilgt werden. Es bleibe erhalten zur Mahnung und Warnung der Nachgeborenen. Auch wenn das wenig nutzen wird.

Das Material zu diesem Aufsatz entstammt zum großen Teil der Ermittlungsakte gegen ihn, die im Stadtarchiv zu Brandenburg an der Havel bewahrt wird.

 

*Alle Namen, bis auf die von Oberbürgermeister Dr. Wilhelm Sievers, Gauleiter Hinrich Lohse (Schleswig-Holstein) und NSDAP-Kreisleiter Ferdinand Heppner (Brandenburg an der Havel) und einigen anderen stadtbekannten Personen und Persönlichkeiten wurden aus datenrechtlichen Erwägungen heraus geändert.

Das Quellenmaterial entstammt größtenteils der Ermittlungsakte gegen Dr. Wilhelm Sievers.

8. Volumen
© B.St.Ff.Esq., Pr.B.&Co,2006