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Zum Tode Stanislaw Lems

 

J.- F. S. Lemarcou
Wieviel Leser, Kenner, Genießer mögen es vor uns gesagt haben: Der kleine jüdische Pole, gebürtig aus Lemberg in Galizien, war der Jules Verne des 20.Jahrhunderts. Seine Werke sind in der Bibliothek des Preußischen Landboten eine Selbstverständlichkeit. Die „Stimme des Herren“ wurde von uns mit höchstem Lob bedacht und zählt zu unserem engsten Kernbestand.
In der Rezension zur „Stimme des Herren“ nannte Herr Bajun den Autor „den großen alten und weisen Seher von Krakau“ und bat darum, daß uns seine Stimme noch möglichst lange erhalten bleibe.
Nun, am Montag, dem 27. März 2006 verstummte diese Stimme der Vernunft, die zu den klarsten und phantastischsten unserer Epoche zählte, für immer. Es ist uns in der Seele leid darum. Am 12. September 1921 gingen über dem ehemals wunderschönen Hauptstetl Galiziens zwei Sonnen auf: Eine davon war ein Kind, das von seinen Eltern Stanislaw genannt wurde. Ein blitzgescheites Kind muß es gewesen sein. Herr Fjøllfross sah immer voller Stolz den Kommilitonen in Herrn Lem. Begann dieser doch an der Lemberger Universität Medizin zu studieren. Der Krieg und dessen Wirren brachten eine Unterbrechung des Studiums mit sich. Der junge Lem drehte der perfektesten Mordmaschinerie aller Zeiten eine Nase und entkam den judenmordenden Häschern. Als Hilfsmechaniker schlug er sich nicht nur durch, sondern beteiligte sich darüber hinaus am Widerstand, um nach der Niederschlagung der braunen Mörder an der großartigsten Bildungsstätte des Ostens, der Krakauer Jagiellonen-Universität das Medizinstudium fortzusetzen.
Standhaft verweigerte er eine Anstellung als Militärarzt und verzichtete dafür sogar auf seine Promotion: Die Armee nahm all meine Freunde, nicht für ein oder zwei Jahre, sondern für immer. (Lem)*
Ähnlich wie Monsieur Verne bemühte sich der Jungmediziner und ausgebildete Psychologe Lem durch eifrigstes Studium technischer und wissenschaftlicher Fachschriften, auf der Höhe der Zeit zu sein. In welch perfektem Umfang ihm das gelang, davon zeugen seine Werke hinlänglich. Doch seine überragenden Kenntnisse sind nicht die einzige Würze seiner Bücher. An erster Stelle imponiert immer wieder die Lem’sche Kunst, den Menschen und sein komplexes Verhalten sich und der Gruppe gegenüber mit Röntgenaugen zu durchleuchten und sodann mit unglaublicher Schärfe zu sezieren. Nichts entging ihm. Er kannte sie von innen. Das ist es, was einen begnadeten Propheten ausmacht. Er brauchte nicht zu orakeln, Kristallkugeln zu reiben oder im Kaffeesatz zu lesen – sein Sachverstand und seine Erfahrung erkannten Tendenzen bis in ihre atomaren Strukturen. Mit kühler und doch so packender Sprache brachte er die Quintessenz seiner Gedanken dann zu Papier. Wie ein Flutlicht über einem nächtlichen Stadion leuchtete er beinahe jeden Aspekt der menschlichen Seele und ihrer Irrungen aus – man entkam seinem Blicke nicht. Ob es nun pathophysiologische, pathopsychologische, philosophische oder gar wissenschaftliche Problemstellungen waren, die Herr Lem in Angriff nahm – immer trat er auf wie der bescheidene Beobachter. Verzichtete auf idealisierte oder gar utopische Lösungen, lächerlich die eine wie die andere, forderte nur immer wieder und unablässig zum Nachdenken, Überdenken, Auseinandersetzen auf. Das für die Masse so obligatorische Happy-End mußte an ihm verzweifeln: Seine Literatur ist intelligent und für intelligente Leser geschrieben. Seine Literatur wurzelte im Leben und beschrieb das Leben – sie band Träume mit ein, ließ sich aber nicht von Träumen regieren.
Im Gegensatz zur absoluten Mehrheit der stumpfen science-fiction unserer Tage wurden keine billigen Spiegel unserer Gegenwart in eine Märchenwelt transportiert, welche sich bei näherem Besehen doch nur als phantasieloser Abklatsch unserer Umwelt erweist. Man denke doch nur mit Schaudern an das Raumschiff Enterprise und bekreuzige sich vor diesem Wildwest-Export in die unendlichen Weiten des Alls mit Inbrunst!
Herr Lem zog es anders auf. Auch er reflektierte anstehende Probleme – sicher. Denn Menschheitssorgen sind ewig und bleiben zu allen Zeiten und in beinahe allen Kulturen immer dieselben. Seine Spiegelungen aber kamen leise daher, dezent und anspruchsvoll – aber voller Präsenz!
Packend beschrieb er Charaktere, in „Schimmel und Nacht“ konnte er seitenweise über das asoziale Umfeld eines verlotterten alten Mannes und eines willkürlichen Alltagsmorgens schreiben, ohne daß man das Buch aus der Hand bekommt. Die Sprache, die brillante Beobachtung, der detaillierte und nie ermüdend wirkende Redefluß halten den anspruchsvollen Leser fest umklammert.
In der „Stimme des Herren“ entwarf er in berauschenden Skizzen Charaktere der menschlichen Oberliga und läßt uns in deren Köpfe und Gedankenwelt eintauchen – was für eine Expedition! Ungleich packender als es eine Reise zum Mond, in der Tat!
Seit Jahrzehnten verleiht das Nobelpreis-Komitee die begehrten Auszeichnungen an verdiente Literaten. Die Herren Grass, Böll und Laxness zählen dazu. Gut und schön. Aber was bedeutet der Literatur-Nobelpreis, solange Herrn Lems Opus nicht von ihm gewürdigt wurde?
Wir werden den Damen und Herren in Skandinavien die entsprechende Anfrage vorlegen. Das sind wir dem genialen Dichter Polens schuldig, der so ganz ohne Pathos, nüchtern und doch so mitreißend seine Sicht der Dinge in die Welt hinausrief – in eine Welt, die dem Nachhall dieser Stimme mit Andacht lauschen sollte. Um ihrer selbst willen!

*aus dem Wikipedia-Beitrag zur Person Herrn Lems

8. Volumen
© B.St.Ff.Esq., Pr.B.&Co,2006