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Wartezimmer

Jules-Francois S. Lemarcou
Wohlgemerkt, dieser Artikel richtet sich nicht an Leute, deren Agenda wirklich zum Bersten gefüllt ist, deren Tag verplant und denen emsiges Schaffen ins Blut geschrieben ist. Er klammert Menschen aus, die selber Termine einhalten müssen und das notwendigerweise auch von andern zu verlangen gezwungen sind. Diese Leute sollten nur bedenken, daß man es bei einem kranken Menschen nicht mit einem mechanischen Gegenstand zu tun hat, bei dem eine konkrete Bearbeitungszeit zu kalkulieren ist.
Dieser Artikel richtet sich an die Müßiggänger, die hauptsächlich an ihrer Langeweile kranken, sich dies aber nicht eingestehen können. Sondern ihre Wut über die eigene, gefühlte innere Leere an dafür gänzlich Unbeteiligten auslassen. Eine menschliche Schwäche? Nein! Ein menschliche Dummheit!
Seit über einer Stunde sitzen sie nun schon da. Und leise hebt das Murren an. Gegenseitig versichern sie sich ihrer Leiden. Nein, nicht der körperlichen, um derentwillen sie den Arzt aufgesucht haben. Das haben sie schon ausgiebig in der vergangenen Stunde getan. Das Thema ist erschöpft. Es geht um das lange, lange Sitzen. Denn das Wartezimmer ist gerammelt voll. Was Wunder? Der Doktor ist als der Beste weit und breit auf seinem Gebiete bekannt. Deshalb kommen ja auch sie. Viele haben sogar einen Termin. Aber der ist wie gesagt schon seit mehr als einer Stunde überfällig.
So geht nun leise aber bestimmt das Maulen los: „Wie könnse denn soville rannehm, wenn se jenau wissen, det se die Termine nich halten können!“ „Janz jenau! Det is ja wohl nich sßu fassen, wat bilden die sich denn ein? Det is ja woll ne Sßumutung!“ „Unerhört is det, da ham se woll recht! Meen Schwager hat neulich ooch mehr als zwee Stunden beim Dokta jesessen. Det is ja wie in ne Klapsmühle. Nen Rappel krichste da!“ „Also wenn sich nich jleich wat tut, bin ick uff de Beene und verpaß se Jang, da vorne!“ Und richtig! Der ältere Herr macht sich auf seine drei Beine – zwei aus Fleisch und eins aus Metall – und geht schnurstracks zum…
Zum Arzt meinen sie? Um sich zu beschweren, daß der soviel Zeit mit seinen Vorgänger-Patienten „vertrödelt“? Ja, da sind Sie wohl auf dem Holzweg! Der wackere Greis lenkt seine Krücke zum Tresen, hinter dem die Anmeldeschwestern sitzen und blafft diese an. Was soll er denn auch beim Arzt? Von dem will er ja schließlich noch was!
Also wagt er sich an das schwächste Element in der Kette – die kleine 17-Jährige Lernschwester! Bravo, alter Mann! Der hast du es aber tüchtig gegeben. Und wie die rot angelaufen ist! Und gestottert hat und irgendwas gebrabbelt. Und fast geheult, als sie sich vorsichtig ins Sprechzimmer geschlichen hat, um ganz leise dem Herrn Doktor dein Begehr vorzudrucksen. Was war noch gleich deine Begründung? „Die ham meene Karte entjegengenommen, die ham zuzusehen, daßet looft!“
Schön blöd waren sie also, daß sie deine Karte entgegengenommen haben, nicht wahr? Das haben sie nun davon. Und überhaupt. Soviele Patienten einzuschreiben, wo sie doch ganz genau wissen… Ja, wenn du am Drücker wärst, dann… Dann würde der Laden hier ganz anders laufen. Du würdest erstmal entscheiden, wer sich mit seinem Leiden beim Doktor einfinden darf und wer nicht. Ganz vorne weg stündest natürlich du auf der Warteliste, alter Mann! Und dann? Selektieren würdest du! Würdest du nicht? Jeder hätte ein Recht zum Doktor zu gehen? Ach was!
Und bei manchen dauert es halt etwas länger. Nicht doch! Solange du im Wartezimmer sitzt, du und deine Mitkeifer, solange kann es gar nicht schnell genug gehen. Aber wenn ihr dann dran seit: Dann wollt ihr dem Doktor alles erzählen. Aber auch wirklich alles! Von Tante Friedas Rheuma bis hin zur letzten Urlaubsreise, und, „Herr Doktor, der Sönke, von meiner Tochter der Jüngste, der is jetzt auffm Gimnasjum! Wat sagen se dasßu? Will ooch mal Dokta wern.“
Und während die kleine Plaudertasche, die das Zusammenkneten der Lernschwester eben noch wohlwollend begleitet und den anderen Anwesenden rechtfertigend erläutert hat, die Karriereträume ihres Enkels zum Besten gibt, die nun wirklich nichts mit ihrer Erkrankung zu tun haben, fluchen draußen schon wieder die nächsten.
Und was ist mit denen, die aus eigener Erfahrung wissen, daß der Doktor gerne zuhört, sich Zeit nimmt und auch mal was fragt, was nicht unbedingt zur Krankheit gehört? Die wittern gerade Unheil! Die wittern, daß der Doktor jetzt anderen sein Ohr leiht für deren überflüssiges Gequatsche. Die sollen nicht rummehren, die sollen sich sputen, daß sie wieder rauskommen. Denn das Rummehren und das überflüssige und langatmige Quatschen ist ein Exklusivrecht, was sie sich selbst vorbehalten.
Wenn sie nämlich drin sitzen, im Sprechzimmer, dann verrinnt die Zeit doch ganz anders, nicht wahr. Dann nimmt Einsteins Relativitätstheorie Gestalt an. Dann dehnt sich die Zeit ins Unendliche – wie ein Kaugummi. Nur um boshafterweise in des Doktors Sprechzimmer zu rasen.
Was steckt denn dahinter? Warum können diese Leute nicht ein, zwei oder auch mal drei Stunden Geduld aufbringen? Weil sie keine haben. Weil sie innen, im Kopf hohl und leer sind. Weil ihnen hier das Vakuum, zu dem sie sich gezwungen fühlen, schmerzhaft bewußt wird. Weil sie noch was ganz wichtiges zu erledigen haben? Ja, was denn? Fernsehen gucken? Mit der Nachbarin tratschen? Mag sein, daß man in Ausnahmefällen wirklich mal etwas dringendes vorhat. Wenn ich aber weiß, daß ich zu einem begehrten Spezialisten gehe, und ich auf den Termin schon fast ein halbes Jahr warten mußte, dann ist doch wohl klar, daß ich mich höchstwahrscheinlich auf eine längere Zeit im Wartezimmer einrichten muß. Denn der Tag hat auch für einen begehrten Arzt nur vierundzwanzig Stunden. Die lassen sich nun mal nicht beliebig ausdehnen.
Also einrichten. Ja, wie richtet sich ein Hohlkopf ein, werden Sie fragen. Und sehen Sie, da ist das Problem! Lesen? Wo komm wa denn da hin? Sich gar noch was zu lesen mitnehmen? „Ach du je! Watt sind ’n dat für Töne?“
Denken! „Denken? Sajen se mal, sie Schnösel! Sie sind wohl mitn Klammerbeutel jepudert? Det ham wa unsa janzet Leben nich jemacht. Da wern wa wohl hier nich damit anfangen.“ Womit auch?
Also wird lustlos in ein paar Boulevardmagazinen herumgeblättert und wenn die alle durch sind, dann beginnt die endlose Wüste der Langeweile. Die irgendwann in einen deftigen Sandsturm mündet, der aus den Mäulern faucht. In Richtung der Lernschwester und ihrer Kollegin, die schon seit Stunden nicht mehr wissen, was sie zuerst tun sollen und wo ihnen der Kopf steht. Hier ein Patient, da der nächste; der versteht was nicht; der hat seine Karte vergessen; der weiß aus der Zeitung, das in den Praxen jetzt alles anders läuft jetzt klingelt das Telephon auf beiden Apparaten: „meine Mutter…Rezept…ja, warum denn nicht? Na sagen Se mal, Frollein…“ und auf dem anderen Apparat: „Fräulein Susanne, verdammt noch mal, wo ist die Karte von Herrn Schulze; haben Sie die Laborwerte von Frau Felleisen zur Hand, ja, um Himmels Willen, warum denn nicht? Machen Sie die Einweisung schon mal fertig und denken Sie an die Laborwerte. Ohne die nicht! … Wie? Ja, Menschenskind, dann müssen Se halt noch mal im Labor anrufen, muß ich Ihnen denn alles sagen? Wozu habe ich Sie eigentlich?“ Knack! Und dann kommt der Streitgreis mit Krücke. Der dem fortwährenden Gemurmel aus dem Wartezimmer seine kräftig-männliche Stimme leiht.
Und was bekommt unsere Lernschwester vom Doktor zu hören? „Ja, Sie sehen doch, daß ich hier arbeite! Machen Sie Ihre Arbeit, da haben Sie genug zu tun! Und jetzt aber ’raus! Zum Feierabend melden Sie sich noch mal bei mir. Dann rede ich mit Ihnen darüber noch mal ein Wörtchen!“
Danke, lieber Wartezimmerrevoluzzer, danke im Namen der Schwestern! Danke für die Kostprobe deines Mutes und deiner Dummheit!
„Wie jetzt, Dummheit?“ Ja, ja, mein Lieber, Langeweile ist ein exklusiver Sport der Dummen!

3. Volumen
© B.St.Ff.Esq., Pr.B.&Co,2004