Baaks
zurück zum Landboten

 

 

Lüge und Wahrheit

B. St. Fjøllfross
Wohl die zwei interessantesten Phänomene zwischenmenschlicher Kommunikation sind die Lüge und die Wahrheit.
Was ist nun was? Auf den ersten Blick eine banale Frage.
Man möchte meinen, zwei Seiten ein und derselben Medaille. Beide geben per Informationsaustausch die Realität wieder: Die Lüge unrichtig - die Wahrheit korrekt. So scheint es zunächst einmal. Doch ich fürchte, die Sache verhält sich etwas komplexer.
Es beginnt damit, daß alles, aber auch wirklich alles, relativ ist, wie uns schon Albert Einstein lehrte. Also sind widergegebene Informationsinhalte eine Sache des Standpunktes!
Und jeder Mensch hat seinen eigenen Standpunkt, den er zu einem gewissen Zeitpunkt einnimmt.
Da nach Newtons Physik keine zwei Körper zur selben Zeit dieselben Raumkoordinaten besetzen können, folgt daraus nun mal zwingend, daß sich für jeden Menschen derselbe Sachverhalt aus einem anderen Blickwinkel darstellt. Jeder hat also seine eigene Wahrheit.
Das gilt selbst für den Fall, daß derselbe Standpunkt von zwei Beobachtern in kurzem Zeitabstand eingenommen wird. In der Zwischenzeit können veränderte Umstände das Objekt in einem ganz anderen Licht erscheinen lassen und daher völlig andere Facetten des Gegenstandes beleuchten.
Wenn nun die räumlichen und zeitlichen Standpunkte nicht allzusehr voneinander differieren und auch die Blickrichtung in etwa dieselbe ist, so fällt es bei gleicher Interessenlage nicht schwer, einen Konsens über die Wiedergabe des Geschehens zu finden. Interessenlage? Was hat die denn nun wieder damit zu tun?
Ganz einfach: Das Interesse, das uns mit einem Gegenstand verbindet, färbt unsere Art ihn zu betrachten, subjektiv ein. Wir sehen ihn also in jedem Falle durch ein Filter. Somit können wir nicht einmal von uns selbst sagen, daß wir im Besitz der für unseren Standpunkt gültigen absoluten Wahrheit seien. Das bedeutet auch, daß verschiedene Personen vor dem Hintergrund ihrer ganz eigenen gewachsenen Charaktere die Einzelheiten der Beobachtung mit verschiedenen Schwerpunkten wichten. Dem einen erscheint dieses Detail bemerkenswert und ein anderes vernachlässigbar, der nächste achtet auf ganz andere Momente.
Wird nun bei der informativen Verarbeitung des Wahrgenommenen nach all diesen benannten Gesichtspunkten gefiltert, so sind schon bei Leuten, die sich der wahrheitsgemäßen Wiedergabe verpflichtet fühlen, völlig voneinander abweichende Darstellungen erklärbar.
Nun, bis hierher war das alles noch recht überschaubar. Das Chaos beginnt erst an diesem Punkt. Um sich seiner Struktur anzunähern, bedarf es zunächst einmal der Feststellung, daß der Nackte Affe, also der Mensch, ein politisches Rudeltier ist.
Jeder, der die Standardwerke von Lorenz, Morris oder Goodall gelesen hat, wird wissen, was das bedeutet. In einem Rudel wird auch bei anderen Säugern um die verschiedenen sozialen Positionen gerungen. Meist in Form von offenen oder ritualisierten Machtkämpfen. Lediglich die Menschenaffen (unter ihnen der Affe Mensch), fechten diese Auseinandersetzungen auch und vielleicht bevorzugt politisch aus, was eine blutige Fortsetzung natürlich keineswegs sicher ausschließt. Ganz im Gegenteil - oftmals werden "handfeste" Streitigkeiten erst dadurch ermöglicht, daß man sie in lange und gründlich angebahnten Koalitionen und Zweckgemeinschaften, Partnerbindungen und Abhängigkeiten vorbereitet hat. Das und nichts anderes meint der Begriff Politik.
Die "Polis" ist die altgriechische Stadt und was anderes ist eine städtische Kommune als ein großes Menschenrudel. All diese Elemente der Politik funktionieren solange, wie sich die Beteiligten davon einen Vorteil erhoffen dürfen. Und genau dieser Vorteil muß ihnen vom politisch agierenden Affen oder Menschen vermittelt werden. Das läuft über verbale und nonverbale Informationsübertragung, bewußte und unterbewußte, mimische und vegetative Kommunikation (gesteuerte und unwillkürliche Gestik, Pheromone und andere chemische Botschaften (Urinmarken im Tierreich) und anderes mehr...).
Wie im vorigen Absatz erläutert, kann von diesen Kommunikationsformen nur ein geringer Teil willkürlich beeinflußt werden. Beim Menschen sind dies Sprachinformationen, bewußt eingesetzte Mimik und Gestik und -in einem geringen Umfang das Aussehen, daß ebenfalls im Konkurrenzkampf um eine möglichst gute Sozialposition eine Rolle spielt.
Und dort beginnt das Reich der Halbwahrheiten und der Lügen. Sie mögen moralisch verwerflich sein. Im Sinne der Evolution sind sie unerläßliche und unverzichtbare Bestandteile des Verhaltensrepertoirs. Wer auf diese Kommunikationsformen als Individuum oder als Interessengruppe leichtfertig verzichtet, verzichtet auf einen entscheidenden Überlebensvorteil, den er dem Gegner in die Hand spielt. Den der wird ihn nutzen!
Also untersuchen wir im folgenden das Wesen der Halbwahrheiten und der Lüge. Ich verspreche, es ist hochinteressant!
Wir tasten uns der Reihe nach behutsam vor. Zunächst einmal wenden wir uns den Halbwahrheiten zu. Was sind Halbwahrheiten eigentlich?
Sie sind absichtlich gefilterte Wahrheiten - nichts weiter.
Ein Sachverhalt wird nach Abzug der oben angeführten Umstände global und umfassend wahrgenommen. Jetzt beginnt der Beobachter zu überlegen: Kann mir die vollständige Mitteilung meiner Beobachtung eher nutzen oder schaden? Oder wie verhält es sich, wenn ich diesen oder jenen Teil eher betone und eine andere Komponente marginal, also eher beiläufig erwähne. Denn genau diese Einzelheit könnte das Bild, das ich von der Sache zu zeichnen gewillt bin, trüben. Und das am Ende zu meinem persönlichen Nachteil. Lasse ich sie also völlig weg, obwohl mir ihre Existenz bekannt ist, bringe aber den Rest wahrheitsgetreu zur Sprache - dann habe ich mich einer Halbwahrheit bedient.
Von klugen Leuten wird die Halbwahrheit als die größere Schwester der Lüge angesehen. Sie ist oft noch gefährlicher, weil in einem harmloseren und moralischeren Gewande einhergehend (wenn man nicht lügt tut man ja nichts verwerfliches...). Aber ihr Ziel ist das selbe: DESINFORMATION! Der Zuhörer soll eben kein exaktes Abbild der Realität geliefert bekommen, sondern eines, das dem Wunsch des Sprechers entgegenkommt. Der Sprecher will seine Zuhörer in seinem Sinne manipulieren. Er will Macht über die Gedanken und Meinungen seines Auditoriums, denn dann ist am ehesten gesichert, daß diese Leute, die sich seine Ansichten zueigen gemacht haben, diesen auch folgen. In diesem Augenblick hat er die Macht über diese Leute. Dann kann er sich deren Energiereserven zueigen machen, sie seinen Zwecken dienstbar machen, sie beherrschen und auf ihre Kosten leben. Und nur darum geht es seit Anbeginn der biologischen Evolution.
Wenn ich beispielsweise ein Haus zu verkaufen beabsichtige und es zunächst per Photographie annonciere, so werde ich das Gebäude der Regel nach von seiner Schokoladenseite ablichten, denn ich will den Käufer um möglichst viel Geld erleichtern.
Ich kann natürlich sagen, daß im letzten Jahr das Dach neu eingedeckt wurde - mit Biberschwänzen. Großartig, denkt der Käufer, brauch ich die nächsten zwanzig Jahre nichts mehr am Dach zu machen. Spart mir Tausende. Dementsprechend hoch kann ich meine Preisvorstellungen ansetzen. Das mit dem Dach stimmt. Ist aber nur die halbe Wahrheit. Denn natürlich ist mir bekannt - der Dachdecker hat es mir ja gesagt, daß der Dachstuhl marode ist, die Balken sind verfault und der Holzwurm tickt in der Lattung. Das beheben zu lassen, war mir damals zu teuer. Natürlich weiß ich um die Konsequenzen. Deshalb will ich das Haus ja losschlagen. Täte ich der Dachstuhl-Geschichte jedoch Erwähnung, ich würde nicht einmal soviel für die ganze Hütte fordern können, wie ich damals für die Schindeln bezahlt habe. Also halte ich das Maul und hoffe, daß der Interessent von diesen Dingen keine Ahnung hat. Ich habe ihn über den Zustand des Dachstuhls nicht belogen! Ich habe ihm nur nicht die Gesamtheit meiner mir zur Verfügung stehenden Informationen auf die Nase gebunden. Im Ergebnis bleibt sich die Konsequenz für ihn gleich. Fällt er auf mein Täuschungsmanöver herein, zahlt er die Zeche. Belüge ich ihn aber und er erkennt den Schwindel, tja, dann habe ich den Schwarzen Peter im Ärmel.
Hat das Haus keinen so gravierenden Mangel, so ist es noch nicht den Halbwahrheiten zuzurechnen, wenn ich das Haus zu einer Tageszeit und aus einer Richtung ablichte, die es in der untergehenden Sonne erstrahlen läßt und den Wald hinter dem Grundstück sichtbar macht. Daß es bei diesigem Wetter trist und farblos aussieht und oft hinter Nebelbänken verschwindet - na ja - der eine mag dies, der andere jenes. Und wenn sich der Dritte vor der Nähe des Waldes fürchtet - ja, dafür kann ich ja nichts. Das täte nur den persönlichen Wertvorstellungen desjenigen Abbruch, nicht aber den durchschnittlichen, allgemeinen. Es wird also niemand bewußt übervorteilt und ist daher nur der im Rahmen bleibenden Variationen verschieden wahrgenommener Aspekte ein und desselben Objektes zuzuordnen.
Wir müssen also beim Vergleich von Wahrheit und Halbwahrheit unterscheiden zwischen normaler unterschiedlicher Beurteilung eines Sachverhaltes und damit verbunden gelegentlicher Über- oder Mangelbetonung einiger Charakteristika einerseits und gezielter Selektierung und Unterdrückung einiger entscheidender Merkmale andererseits.
Wenn mir die wahre Natur einer Sache jedoch bekannt ist und ich bewußt eine andere Darstellung von ihr gebe, dann bediene ich mich der Lüge. Sie ist das häufigst gebrauchte Stilmittel der zwischenmenschlichen Kommunikation und bis auf einige bekannte Ausnahmen bei Schimpansen wohl nur dem Menschen vorbehalten.
Sicherlich, auch Vögel hüpfen bisweilen bewußt abseits ihres Geleges umher, um Marder oder Katze von den Eiern wegzulocken. Natürlich dient dieses Verhalten dem Vorteil der Vögel und gereicht dem Räuber zum Schaden. Dennoch lügen die Piepmätze nicht, denn Tiere handeln wertfrei.
Wir Menschen jedoch, ich möchte beinahe sagen, auch die Heiligsten unter uns, lügen, wo wir gehen und stehen. Das fängt bei den künstlichen Wimpern an, dem Wonderbra oder dem Toupet. Das setzt sich fort bei den Prahlereien über unsere Absichten und Taten. Das endet auch nicht bei den Wahlkampfkampagnen.
Wir lügen so sehr, daß wir am Ende uns selbst glauben.
Der Kanzler Bismarck prägte das folgende Bonmot: Niemals wird so viel gelogen, wie vor der Wahl, während des Krieges und nach der Jagd. Damit hat der Eiserne Kanzler die Anwendungs- und Zielbereiche der Lüge klar umrissen. Sie hat in jedem Falle unserem Vorteil zu dienen. Natur aber ist vor allem eine Sache des Gleichgewichtes. Was also unser Vorteil ist, das muß ein anderer zu seinem Schaden Nachteil nennen. Also lügen wir, um den, dessen Nachteil wir zu unseren Gunsten anstreben, über die wahre Beschaffenheit der Sache zu täuschen, die wir mit ihm verhandeln. Er soll glauben, daß sie so ist, wie wir sie darstellen, damit er so reagiert, wie wir uns das wünschen. Tut er es, ist er der Dumme! Basta.
Die kleinbrüstige Frau versucht mit dem Wonderbra den Betrachter ihres Busens über dessen wahre Größe zu täuschen, weil dieses ihre Chancen auf dem Partnermarkt nach ihrer Einschätzung empfindlich schmälern würde. Sie wertet einen Teil ihres Gesamtattraktionspotentials unter Vorspiegelung falscher Tatsachen auf, um den Partner ihrer Wahl anzulocken und letztendlich an sich zu binden.
Der Delinquent lügt vor Gericht, daß sich die Balken biegen, um dem als unangenehm empfundenen Gefängnis zu entgehen. Natürlich ist er unschuldig. "Herr Richter, das Opfer ist mir geradewegs ins Messer gelaufen, mit dem ich mir nur ein Brot schneiden wollte!" "Wie denn, Angeklagter, zweiunddreißig Mal???" Der Versicherungsvertreter erzählt dem Kunden das blaue vom Himmel, um ihn zum Abschluß der Police zu bewegen. Tritt dann der Versicherungsfall ein, ist auf einmal alles nicht mehr wahr. Alles war ganz anders gemeint, man hätte es ja im Kleingedruckten nachlesen können. Warum ist das Kleingedruckte aber kleingedruckt....? Der unseriöse Autoverkäufer dreht gar über Nacht mit der Bohrmaschine die Tachowelle retour, um dem Kunden weiszumachen, daß Automobil hätte viel weniger Kilometer auf dem Buckel und sei daher als höherwertiger anzusehen. Der Finanzanalyst belügt seine Anleger über den wahren Wert der Aktie und der windige Steuerberater das Finanzamt über die wahren Einnahmen des Betriebes, den er vertritt. Er möchte die Firma auch nächstes Jahr wieder unter seiner Klientel wissen und diese möchte nicht allzuviel an den Fiskus verlieren.
Der Politiker belügt sein Wahlvolk um in die angestrebte Machtposition zu gelangen. Der General belügt den Heeresstab über die vom Feind beigefügte Schlappe, um trotzdem eine Beförderung und einen Orden zu erhalten. Die Tochter belügt die Mutter über ihren wahren Übernachtungsort, um sich diese Option auch weiterhin zu sichern.
Die Produkte-Werbung ist eine Domäne der Halbwahrheiten und Lügen. Ich habe meine ersten fundamentalen Erfahrungen mit dieser Tatsache gemacht, als mir meine Großmutter aus Österreich einen GeHa-Füllfederhalter mitbrachte. Für einen armen Ostjungen ohne Westverwandschaft ein phänomenales Gerät, ein Schatz um den andere Kinder mich beneideten. Er war berühmt für seine feine Feder und - was bei Kindern noch wichtiger war - für seine sagenhafte Stabilität. Beworben wurde er im für uns zugänglichen West-Fernsehen mit einer Szene, in der Schulkinder auf dem Füller herumsprangen und der hielt das mühelos und unbeschadet aus. Als ich diese Szene vor versammelter Klasse mit meinem Prachtstück wiederholte, um mich des Staunens und des Neides meiner Kameraden zu versichern, gab das malträtierte Schreibgerät ohne zu zögern und widerstandslos seinen Geist auf und zerbarst, kaum das ich drei Worte mit ihm geschrieben hatte, in tausend Teile. Damals brachte mir diese Erfahrung das höhnische Gelächter der Kameraden, die wütende Schelte meines Vaters, die traurigen Augen der Oma und den Ruf eines Rindviehs ein. Erst viel später amortisierte sich der zerstörte GeHa womöglich tausendfach. Veränderte doch diese schmerzlich in die Kinderseele gebrannte Erfahrung mit der Werbungslüge meinen Umgang mit beworbenen Produkten und Webeversprechen nachhaltig.
Der Grund, daß sich viele Menschen trotz der Gefahr, der Lüge überführt zu werden, weiterhin ihrer bedienen und das, wie Untersuchungen zeigten, Dutzende Mal am Tag - bewußt wie unterbewußt - ist die Aussicht, nicht entdeckt zu werden. Und in diesem Falle von den Früchten der Lüge zu genießen. Oder zumindest den Unannehmlichkeiten zu entgehen, die die Nennung der Wahrheit mit sich gebracht hätte.
Paule ist nach den großen Ferien wieder zurück in die weit entfernte Stadt gefahren, in der er wohnt. Natürlich habe ich das Fenster des Bürgermeisters mit dem Ball eingeschossen. Aber was tut’s? Selbstverständlich werde ich den Meisterschuß Paule andichten. Denn dem tut es ersten nicht mehr weh - ihn belangen können sie nicht, dazu ist er zu weit weg und bis er wieder kommt, ist Gras über die Geschichte gewachsen und kein Mensch redet mehr davon. Mir macht keiner den Prozeß und ich muß bei Bürgermeisters den Schaden nicht abarbeiten. Vorteile für mich auf der ganzen Linie - scheinbar. Denn auf lange Sicht birgt die Geschichte doch einige Tücken. Deren größte ist jedoch, der Lüge überführt zu werden. Denn das kostet mich meine Glaubwürdigkeit.
Und für eine soziales Wesen ist das ein herber Verlust, weil er oftmals einhergeht mit Desintegration und Ausschluß aus der Gemeinschaft. "Vertrauen ist der Anfang von allem..." sagt eine namhafte deutsche Bank in einem ihrer Werbepots. Das ist die Wahrheit. Nur eben in Bezug auf das reale Geschäftsgebaren des Geldinstituts ist der Spruch glatt gelogen....Ansonsten wäre dieser "global player" längst pleite.

21. März 2003

1.Volumen

©B.St.Fj..Pr.B.&Co,1998