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Die Legende von Beowulf (Film)

Supergute Tage oder die sonderbare Welt des Christopher Boone

The curious incident of the dog in the night-time
von Herrn Mark Haddon

K. K. Bajun
Das ist nun wirklich ein extraordinaires Buch, fürwahr. Daß es in England die Verkaufslisten anführte, daß es bereits in viele Sprachen übersetzt wurde, daß das Werk bereits verfilmt wurde, das will uns nicht wundern.
Gleichwohl das Sujet nicht neu ist – die Welt aus der Sicht eines sogenannten geistig Behinderten zu schildern, ist bereits Daniel Keyes mit seinen „Flowers for Algernon“ (s. Landbote Bücher 1. Volumen) fulminant gelungen – gibt es doch hier einige neue Aspekte.
Mark Haddon beschreibt die Wahrnehmungen eines 15jährigen, der am Asperger-Syndrom, einer speziellen Ausformung des Autismus leidet.
Christopher lebt bei seinem Vater, einem selbständigen Klempner in Swindon, einem Provinznest, 60 Meilen westlich von London. Die Mutter ist tot, so glaubt er. Der Vater hatte es ihm erzählt. Christopher ist in seiner sozialen Reife zurückgeblieben. Die Natur jedoch hat ihn mit einem phänomenalen Gedächtnis und einer überwältigenden Logik gleichermaßen begabt und für das soziale Defizit zu entschädigen versucht. Doch aus diese Gaben haben ihren Preis. Eine Reizüberflutung führt schnell zu psychischen und physischen Beschwerden. Der Junge reagiert in solchen Situationen mit den Verhaltensmustern eines Dreijährigen – Hinwerfen, Brüllen, Einnässen.
Die Eltern haben es nicht leicht. Beide Anfang Vierzig, bestaunen sie die phantastische Genialität des Sohnes und müssen sich gleichsam unter das Diktat seiner Verhaltensabnormitäten fügen. Welch immenser Kraftaufwand!
Und doch lieben sie ihn. Der Vater vermag mehr auszuhalten ob seines an und für sich ruhigen Naturells. Die Mutter aber kapituliert irgendwann, sie brennt mit dem Nachbarn nach London durch. Davon aber ahnt der Junge nichts. Er findet eines Tages Nachbars Hund von einer Mistgabel erstochen im Vorgarten just der Frau, deren Mann mit seiner Mutter das Weite gesucht hat.
Der Hund tut ihm leid. Er will wissen wer der Mörder ist, er beginnt auf seine eigentümliche Art zu recherchieren.
Was für Szenen rollen da auf uns zu! Die Welt des Christopher Boone aus seinen Augen zu sehen, erschreckt und beunruhigt uns zutiefst. Es ist die Welt des in uns verschütteten Kindes, denn – haben wir diese Welt nicht einst auch so interpretiert, so geradlinig und unverbogen, so ohne Arg und Mißtrauen? Es ist die Welt des Autisten, der den Winkelzügen der steten menschlichen Betrugsversuche am Nachbarn nicht zu folgen vermag. Es ist die Welt des hochbegabten Mathematikers, für den 1 und 1 immer noch exakt 2 sind und nicht: „na ja, eventuell, und wenn man in Betracht zieht, daß…“
Begegnen wir einem Autisten auf der Straße, so verlieren wir oft recht schnell das Interesse an der Person, denn sie gibt sich uns gegenüber verschlossen und abweisend. Was sollen wir mit einem Museum, dessen Ausstellung noch so interessant sein mag, wenn die Pforte zu ist? Wir gehen weiter. Ja, ja, hübsche Fassade. Schnell ein Photo gemacht, wir waren hier, auf zur nächsten Sehenswürdigkeit.
Selbst wenn es uns reizen würde hinter die Fassade zu schauen, uns mangelt die Zeit, uns reut der Aufwand. Wozu? Es gibt ja so viele kommunikative Menschen, denen wir den lieben langen Tag die Hucke vollügen können und uns im Gegenzuge von ihnen das Blaue vom Himmel runterschwindeln lassen!
Der Autor Mark Haddon aber schließt die Pforte auf. Er läßt uns ein. Nicht nur mal eben Räuberleiter von außen und ein rascher Blick durch die Fensterscheiben – nein, er nimmt uns bei der Hand und führt uns durch die Seele eines autistischen Kindes. Und ich finde, er macht das sehr gut!
Wie gut er das macht, entzieht sich beinahe der Kunst des Beschreibens, denn er bringt ein wahres Bravourstück zuwege: Herr Haddon drückt diesem Jungen die Feder in die Hand und läßt ihn schreiben. In der Ichform. Ist der Autist wirklich so gefühlsarm, wie es oberflächlich den Anschein hat? Ist es nur das Pflichtgefühl, das sich Christopher absolut loyal um seine Ratte Toby kümmern läßt? Zumindest ein ganz archaisches Gefühl bedrängt den Jungen allerorten: Furcht. Furcht vor dem Vater, nachdem in kurzer Zeit zwei traurige Wahrheiten über den Jungen hereingebrochen sind, die sein Vertrauensverhältnis nachhaltig erschütterten. Furcht vor dem Abenteuer einer selbständigen Fahrt nach London, da er doch nie allein auch nur seine Straße verlassen hatte. Der einen Angst kann er nicht standhalten, die andere überwindet er. Herr Haddon zieht uns mit auf die Fahrt, die Wirrnisse, die Panik vor dem nie zuvor erlebten, einfahrenden Zug der Underground. Herr Haddon zieht uns in den Kopf und die Seele des Jungen und zwingt uns, durch seine Augen hindurchzublicken.
Mit gnadenloser Härte entwirft der Autor ein Umfeld seines Protagonisten, wie wir es nur allzugut kennen. Nix Seifenoper, keine Schnulze, klatsch, klatsch, klatsch drischt der damals vierzigjährige Autor uns die ungeschminkte Realität menschlicher Schwächen und Auseinandersetzungen um die Ohren. Fein beobachtet, ohne den richtenden Zeigefinger zu erheben. Wir kommen nicht umhin, Mitgefühl für die desertierte Mutter zu entwickeln, wir bringen es nicht zuwege, den gestrauchelten Vater zu verurteilen. Die Porträts nämlich, die Herr Haddon zeichnet, sind ausgewogen. Er verzichtet darauf, schwarz-weiß zu malen, Nuancen prägen das Bild, Objektivität erklimmt ungeahnte literarische Höhen. Das zu lesen tut gut, es befreit, es führt uns ein Stück weit zurück in die eigene Vergangenheit. Wissend durch unseren eigenen Erfahrungshorizont können wir die uns umgebenen Dinge noch einmal durch unsere juvenilen Augen hindurch betrachten. Ich glaube, das ist der wertvollste Aspekt eines meisterlich geschriebenen Werkes. Meisterlich weil sich hier die Antithese des Autismus, die beinahe totale Empathie artikulieren durfte. Und diese Empathie fand Worte, die uns überlegen lassen, ob uns die Gesellschaft eines angeblich Behinderten, behaftet mit einem Asperger-Syndrom, nicht erstrebenswerter sei, als die eines „Normalen“ mit all seiner mühsam verborgenen Selbstsucht, seiner Tücke, seiner Unberechenbarkeit.
Ein so schweres Thema zu einem so glücklichen literarischen Wurf zu formen, ist alle Achtung und Bewunderung wert. Der Markt honorierte diese Feststellung seit Erscheinen des Buches entsprechend. Nicht zuletzt auch dieses sehr positive Faktum dürfte selbst dem verdrießlichsten Pessimisten wieder Anlaß zur Hoffnung geben.

The curious incident of the dog in the night-time
Deutscher Titel: Supergute Tage oder die sonderbare Welt des Christopher Boone
Mark Haddon
Vintage
Random House, 20 Vauxhall Bridge Road, London SW1 20SA
ISBN 0 099 47043 8

 
B
4. Volumen
© B.St.Ff.Esq., Pr.B.&Co,2007